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Findelkind 2307

VERTRIEBENE Matti Geschonneck hat Hans-Ulrich Treichels Roman „Der Verlorene“ verfilmt („Der verlorene Bruder“, ARD, 20.15 Uhr). Darauf ein Streichwurstbrot

von Jens Müller

Matti Geschonneck ist der beste TV-Regisseur, den wir haben. Ohne „vielleicht“. Und Literaturverfilmungen sind sein Ding.

Lieferte „Boxhagener Platz“ ein Sittenbild der DDR in den 60er Jahren, folgt mit „Der verlorene Bruder“ nun gleichsam das BRD-Gegenstück. Und es ist verblüffend, wie präzise der Regisseur – der Sohn des berühmtesten DDR-Schauspielers Erwin Geschonneck – den Ton des gleichaltrigen gebürtigen Westdeutschen Autors Hans-Ulrich Treichel trifft. Dessen sarkastischen, manchmal derben, meistens subtilen Spott, der auch seinen bekanntesten Roman „Der Verlorene“ durchzieht.

Da werden (von Matthias Matschke als Polizist Frank Rudolf) so grandiose Sätze gesprochen wie: „Operette ist meine Leidenschaft. Manchmal höre ich auch moderne Musik aus Amerika. Möchten Sie noch ein Streichwurstbrot?“

Es werden darüber hinaus Schweinskopf und Hirn serviert. Die Verdammung der Beatmusik durch die Erwachsenen ist ein Running Gag. Zum Beispiel der Lehrer in der Schule: „Das ist keine Musik! Mehr ist zu dem Thema nicht zu sagen. Jetzt kommen wir zu der wirklichen Musik. Diese Musik ist keine Eintagsfliege. Keine bloße Mode. Das ist die Musik, die schon 100 Jahre überdauert hat. Das deutsche Kunstlied.“

Dann kommt das Wirtschaftswunder. Das Leben wird vorwärts gelebt. Die Eltern haben dem dreizehnjährigen Max (Noah Kraus) immer erzählt, sein Bruder sei auf der Flucht vor den Russen verhungert. Plötzlich heißt es, er sei damals „verloren“ gegangen. Er könnte noch leben. Er könnte Findelkind 2307 sein. Die Mutter (Katharina Lorenz) ist sich sicher: „Aber er ist mein Kind. Das weiß ich. Eine Mutter fühlt das.“

Der Vater (Charly Hübner) arbeitet indes, arbeitet sich hoch vom Einzelhändler zum Fleischgroßhändler, vom Ford Taunus zum Opel Olympia zum Opel Kapitän, Nummernschild HW: Halle, Westfalen. „Wir hatten nichts, als wir hier angekommen sind. Aber wir wollten auch nichts von denen haben. Wir ­haben alles alleine aufgebaut.“ Der frühe Herzinfarkttod ist ­obligatorisch. Diese Obsession seiner Frau mit Findelkind 2307: „Weißt du, Elisabeth, ich hab mir überlegt, mit diesen Gutachten, das ist jetzt mal gut. Wir müssen uns um das Geschäft kümmern. Von alleine wird das nichts.“

Max, der der Erzähler der Geschichte ist und dessen Perspektive den Film bestimmt, manipuliert und sabotiert. Will verhindern, dass die familiäre Leerstelle mit Findelkind 2307 als neuem Bruder gefüllt wird: „Als toter Bruder war er mir lieber gewesen.“

„Der verlorene Bruder“ ist als kritischer Rückblick auf eine Zeit und ihren Zeitgeist so nostalgie- und kitschfrei und wohl auch so autobiografisch wie Oskar Roehlers „Herkunft“/„Quellen des Lebens“. Aber auch frei von dessen Hass. Der Sound ist ein ganz anderer, melancholischer. Und dass er in Romanvorlage und Verfilmung so sehr übereinstimmt, trotz der Änderungen und Streichungen, ist ein Verdienst des Regisseurs: Matti Geschonneck. (Okay, und bestimmt auch der Drehbuchautorin Ruth Toma. Und der tollen Schauspieler.) Und selbstverständlich geht es in dem Film auch um das Thema Flucht.

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