Berliner Szenen: Niklausfest
Deine Handschrift
Der Abend vor Nikolaus wird bei uns traditionell mit der Stiefelreinigung begangen. Dieses Jahr hat mein Sohn ein Problem. Gummistiefel sind ja höchst uncool, genau wie Winterstiefel. Man trägt gefütterte Sneakers von Adidas. Aber Sneakers in Größe 36 sind für Nikolaus natürlich suboptimal, weil viel zu klein. Nach kurzer Verhandlung verleihe ich meine Gummistiefel („ausnahmsweise“). Frisch geputzt steht der Stiefel da, daneben ein kleiner Teller mit Brot (für das Pferd) und einem Keks (für den Nikolaus). Alles wie immer, alles gut. Denke ich. Am nächsten Morgen ist der Stiefel voll, das Tellerchen ist leer – bis auf einen Zettel „Danke. N.“ Kleine Aufmerksamkeiten erfordern höflichen Dank. Das war auch noch nie anders.
Der Tag nimmt seinen Lauf, Schokolade wird gegessen. Nachmittags gehen wir ins Kino. Weitere Schokolade wird gegessen. Der große Stiefel hat viel Inhalt. Alles gut. Könnte man meinen. Aber Kinder sind ja unberechenbar. Abends hält mir ein tränenüberströmtes Kind anklagend den Zettel vor die Nase. „Das ist DEINE HANDSCHRIFT!!! Den Nikolaus gibt es nicht. Ihr habt mich angelogen!“
Einschub: Das Kind ist fast zehn. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass er noch an den Nikolaus glaubt. Genauso wenig wie an den Weihnachtsmann oder den Osterhasen. Und trotzdem hatte ich natürlich extra in krakeliger Druckschrift geschrieben. Aber auch das hat offenbar nicht gereicht. Ende Einschub.
So kann der Tag nicht enden. Was tu ich jetzt? „Weißt du“, fällt mir da ein, „du erinnerst dich doch an die Reklame im Kino vorhin. 7 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig schreiben und lesen. Der Nikolaus gehört auch dazu. Da hat er mich gebeten, dass ich für ihn den Zettel schreibe. Es war ihm etwas peinlich.“
„Mama, das denkst du dir jetzt aus, oder?“ Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen