: Mundraub für das ökologische Gleichgewicht
Kleptoparasitismus Möwen und Enten konkurrieren um die gleiche Beute, die Zebramuscheln. Die Enten holen sie aus dem Wasser, die Möwen stibitzen sie
Bis zu 65.000 Enten überwintern jedes Jahr am Stettiner Haff. Sie freuen sich dort über eine ihrer Leibspeisen: die Zebramuschel. Doch ihre Freude währt oft nur kurz – denn nach den Tauchgängen werden sie von räuberischen Möwen erwartet.
Der sogenannte Kleptoparasitismus ist im Tierreich nicht ungewöhnlich. So sieht der Seeadler zwar majestätisch aus, doch sein Lebensstil ist eher gangstermäßig. Denn einen Großteil seiner Fischnahrung trotzt er nicht etwa dem Wasser, sondern anderen Raubvögeln ab. Und die Diebesspinne verzichtet sogar auf den Bau eigener Netze und setzt sich stattdessen unauffällig in das Websystem anderer Spinnengattungen, wo sie sich dann an der bereits eingesponnen Beute bedient.
Wissenschaftler der Universität Stettin haben nun direkt in ihrer Nachbarschaft, nämlich im Stettiner Haff, eine neue Form des Kleptoparasitismus entdeckt. Die Opfer sind Enten, die Täter Möwen, und das Objekt ihrer Begierde ist die Zebramuschel, die in der Ostsee gar nicht wachsen sollte. Denn ihre eigentliche Heimat ist das Schwarze Meer, doch durch den Schiffsverkehr hat sie sich mittlerweile im Haff so massiv ausgebreitet, dass sie anderen Muscheln und auch vielen Wasserpflanzen das Leben schwer macht.
Die Möwen warten schon
Die Tafel- und Reiherenten allerdings profitieren von der Weichtierinvasion. Sie kommen im Herbst von Skandinavien in die zweitgrößte Lagune der Ostsee, und dann sind sie hungrig, sodass sie sofort abtauchen, um sich die Muscheln zu holen. Doch wenn sie an die Wasseroberfläche zurückkehren, werden sie von Möwen erwartet. Und die haben dann zwei Strategien: Entweder sie beschränken sich auf das, was die Enten fallen lassen. Oder aber sie ziehen die Beute direkt aus den Entenschnäbeln heraus.
Normalerweise sind Möwen Fischjäger, doch dabei müssen sie, wie Studienleiter Dominik Marchowski ausführt, „mit Kormoranen, Gänsesägern und Haubentauchern konkurrieren“. Mit den Muscheln dagegen haben sie eine Nische für sich allein entdeckt, und Ärger gibt es auch nicht, weil die bestohlenen Enten lieber noch einmal auf Beutezug gehen, bevor sie sich mit den aggressiven Räubern anlegen.
Wie Kot-Analysen belegen, steigen die Möwen in den Wintermonaten fast komplett auf die „Entenmuscheln“ um. Was für das ökologische Gefüge durchaus von Vorteil ist. Denn die im Sommer stark dezimierten Fischbestände können sich dann besser erholen, weil sie keine Möwen mehr zu fürchten haben, und die invasiven Zebra-Muscheln werden auf eine erträgliche Anzahl zurechtgestutzt, insofern sie Enten und Möwen als Nahrung dienen.
Wenn allerdings der Frühling kommt, ziehen die Enten zurück in den Norden und die Möwen müssen wieder zum Fischfänger umschulen. Doch das ist nicht weiter problematisch, insofern sie auch darin gelegentlich als Klepto-Räuber aktiv werden – und unaufmerksamen Touristen den Hering vom Brötchen ziehen. Jörg Zittlau
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