: Die gemütliche Dissonanz
Fotografie Die Ansammlung der Dinge und die Leere:„Lothars Wohnung“ von Christoph Schieder in Tempelhof
von Sophie Jung
Neukölln soll gar nicht von einer umgreifenden Gentrifizierung bedroht sein, so will es zumindest eine Studie von 2012 des Stadtforschungsinstituts Topos. Dennoch gibt es spürbare Veränderungen im Bezirk, ohne dass sie immer in Zahlen zu erfassen wären.
Der Berliner Fotograf Christoph Schieder spürt dem sozialen Wandel in einer Ausstellung in der Galerie im Tempelhofmuseum ästhetisch nach. „Lothars Wohnung“ heißt die Serie von Aufnahmen aus der Neuköllner Wohnung eines alten, alleinstehenden Herren. Sie stellt zwei Momente gegenüber: als Lothar noch lebte und nach seinem Tod, als die Wohnung entrümpelt und restauriert wurde.
Lothar selbst ist auf den Fotografien nur selten zu sehen, dennoch ist er der Protagonist dieser Bilderzählung. Details und Ausschnitte bringen ihn auf den Bildern spürbar nahe: Einmal drohen seine fünf Morgenmäntel in unterschiedlich deftiger Musterung vom Haken an der Schlafzimmertür zu fallen, ein anderes Mal platzt der längst vergilbte Lack auf der Bodenleiste zwischen Bodenkacheln mit Floralmotiv und Seventies-Teppich auf, woanders stoßen die schicken Polstermöbel mit einem Bezug aus Tigerfellimitat aus den Achtzigern auf den Flachbildschirmfernseher der nuller Jahre. Eine Kakofonie der Muster und Farben zeigt sich, so wie sie sich nur über Jahrzehnte in den intimen Räumen eines Menschen einnisten kann. Nahe, als Detailaufnahme, oder distanziert, als Raumaufnahme, fängt Schieder die Ansammlung an Dingen aus Lothars Leben ein und macht den alten Mann zugleich gegenwärtig.
Erzählen die einen Bilder der Ausstellung von der Anwesenheit eines alten Mannes, so dokumentieren die anderen seine Abwesenheit: Leere, Sauberkeit, Helligkeit zeigen sich plötzlich auf Schieders Aufnahmen von der Wohnung, nachdem sie entrümpelt und restauriert wurde. Die narrativen Details aus Lothars Räumlichkeiten sind nun einer genormten Ästhetik des restaurierten Altbaus gewichen. Abgezogene Dielen, hohe Decken, weiße Wände – neutrale Bezugsfertigkeit statt gemütlicher Dissonanz.
Der Weg des vergleichenden Sehens
Der Fotograf komponierte die Aufnahmen der restaurierten Wohnung auf die gleiche Art wie zuvor die der bewohnten Wohnung. Im gleichen Winkel fällt der Blick auf die Schlafzimmertür, sie steht immer noch halboffen, nur hängen über ihrem weißen Lack keine Bademäntel mehr. Erneut sieht man die Fußleiste, doch sie ist frisch abgezogen und der Teppichboden ist verschwunden. Folgt man dem Blick der Kamera, so scheinen auch die Bilder aus der leeren Wohnung aus einem spontanen Impuls heraus fotografiert, doch ihnen fehlt das Motiv für die Spontanität. Es fehlt schließlich der Mensch.
Schieders Ausstellung „Lothars Wohnung“ ist eine soziale Dokumentation, doch im Hintergrund reflektiert sie auch bildtheoretische Aspekte. Es ist die Leere der Räume auf den späteren Aufnahmen, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Komposition der Fotografien lenkt. Plötzlich werden die Linien sichtbar, die Drehung des Kameraobjektivs ist abzulesen. Vergleicht man die Aufnahmen der Abwesenheit Lothars mit denjenigen seiner Anwesenheit, so lassen sich die formalen Mittel erschließen, mit denen Christoph Schieder Nähe und Distanz, Konzentration und Ablenkung inszeniert.
Das vergleichende Sehen ist ohnehin auf vielfache Weise Thema von Schieders Ausstellung. So gruppiert er die alten Aufnahmen und schafft aus einzelnen Ausschnitten ganze Raumeindrücke aus Lothars Wohnung. Das gleiche Arrangement der Bilder verwendet er für das weiße Äquivalent der nun restaurierten Wohnung. Ein anderes Mal setzt Schieder die einzelnen Fotografien von damals und jetzt direkt als Gegensatzpaar nebeneinander. „Was bleibt, wenn wir gehen“ ist der Untertitel der Ausstellung, und Schieders fotografischer Vergleich von einem nicht weit entfernten Damals und dem Heute antwortet darauf: Abwesenheit, von dem was einmal war.
„Lothars Wohnung“, Galerie im Tempelhofmuseum, Mo.–Do. 10–18 Uhr, Fr. 10–14 Uhr, So. 11–15 Uhr; bis 10. Januar 2016
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