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Der Deutsche

Leben Der politische Zustand, in dem Altkanzler Helmut Schmidt zum Leuchten kam, war die Krise. Doch seine Rationalität hatte auch eine mitleidslose Seite

von Stefan Reinecke

In Interviews wirkte er manchmal wie in sich selbst versunken, ehe er sich doch herabließ, die Frage zu beantworten. Diese Kunstpausen sollten dem Publikum nicht nur bedeuten, dass hier ein Nachdenklicher spricht, der seine Worte wägt. Das Schweigen machte klar, wer Regie führt: Er, Helmut Schmidt. Die Pausen waren subtile Demonstrationen der Überlegenheit.

Oberstleutnant Schmidt wurde 1946 Sozialdemokrat, weil er sich dort Kameradschaft versprach. So hat er es selbst berichtet. Der Gewaltorkan des Zweiten Weltkriegs, den er als zupackender, allenfalls an den Erfolgsaussichten der Wehrmacht zweifelnder Soldat erlebte, war die Zentralperspektive seines Lebens. In der SPD suchte er nicht nur eine Art zivile Verlängerung soldatischer Gemeinschaft – er behandelte sie, mit wechselndem Erfolg, auch wie ein Oberstleutnant seine Kompanie.

Als Politiker war er ein Manager, der wusste, was in der Not zu tun ist, auch das ein Echo seiner Militärzeit. Der politische Zustand, in dem er zum Leuchten kam, war die Krise – die Sturmflut in Hamburg 1962, Willy Brandts Rücktritt 1974, der deutsche Herbst 1977.

Die Bundesdeutschen mochten ihn, das norddeutsch Knappe, auch das Autoritäre. Als Kanzler behandelte er seine Minister, wie Newsweek 1974 bemerkte, wie „eine Bande unartiger Kinder“. Erhard Eppler, damals Minister für Entwicklung, also Gedöns, nahm umgehend seinen Hut. Eppler verkörperte für Schmidt das Prinzip, für das er nur verständnislose Herablassung hatte: die Moralisierung von Politik. Politik, so wie Schmidt sie verstand, konnte nur Realpolitik sein, exakt analysiert, entschlossen durchgesetzt. Er selbst sah sich als Intellektuellen im pragmatischen US-amerikanischen Sinn; als Kopf, der Währungssysteme, RAF-Terror oder die atomaren Abschreckungspotenziale nüchtern anschaut und handelt. Und er hielt sich für gescheiter als Henry Kissinger.

„Leitender Angestellter“

Politik muss Kunst ohne Passion sein. Sie darf nur das Machbare wollen. Das war Schmidts Schlussfolgerung aus der Katastrophe der NS-Zeit. Denn hatten nicht die politischen Leidenschaften, die die Nazis geweckt und missbraucht hatten, geradewegs in die Trümmerfelder der deutschen Städte geführt?

Schmidt verkörperte mit stets tadellos gezirkeltem Scheitel den Gegenentwurf zum Volkstribun, sachlich, pragmatisch, korrekt. Als Kanzler verstand er sich, ohne Anflug von Ironie, als „leitender Angestellter der Bundesrepublik“. Der Staat sollte wie ein Unternehmen funktionieren, ein Apparat, den man zu bedienen wissen musste. Das Ideal war der reibungslose Ablauf, der nur vor störenden Jusos, die Reiche besteuern oder die Wirtschaft lenken wollten, geschützt werden musste.

Helmut Schmidt glaubte an Fakten, Daten, Statistiken, nicht an Parteitagsbeschlüsse. Wäre er eine Figur aus einem Roman, er hätte der Held in Max Frischs „Homo Faber“ sein können, der sagt, dass er keine Mystik braucht – Mathematik genügt.

In den 68ern sah Frontsoldat Schmidt eine Wiederkehr der sinistren ideologischen Kräfte, die schon 1933 ins Unheil führten. Für die Linksintellektuellen, von Rudi Dutschke bis Jürgen Habermas, hatte er kaum mehr als Verachtung übrig. Alles Utopische erschien ihm gefährlich zu sein, bestenfalls überflüssiges Geschwätz, das vom Wesentlichen, den steinernen Notwendigkeiten der Realpolitik, ablenkte. Er war ein Anhänger von Karl Poppers antitotalitärem kritischem Rationalismus.

Hatte Schmidt mit Popper recht? In manchem durchaus. Die Wiederbelebung von Marx war nur ein Umweg, der die 68er ungefähr dorthin führte, wo Schmidt schon war: in die offene, liberale Gesellschaft. Schmidt allerdings konnte auf eine Art recht haben, die alles, was nicht effektiv auf geradem Weg zum Ziel führte, mit arroganter Verachtung strafte. Peter Glotz, der SPD-Intellektuelle, attestierte ihm mal eine „protestantische Angst vor der Unterwelt der Gefühle“. Mag sein, dass das Knöcherne, Barsche aus dieser Abwehr rührte.

Im Jahr 1977, in der Entweder-oder-Situation, blieb er hart gegen die RAF und weigerte sich, den entführten Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer gegen die inhaftierte RAF-Führungsriege auszutauschen. Im Großen Krisenstab paradierte er mit dem CSU-Mann und Wehrmachtsleutnant Friedrich Zimmermann in einer Pause mit einem Gehstock als Gewehrsatz. Die Unnachgiebigkeit hatte einen zackigen, soldatischen Ton. Das ändert nichts daran, dass es Gründe gab, sich nicht erpressen zu lassen. Die Befürchtung, dass die RAF, wenn Andreas Baader und Gudrun Ensslin freigekommen wären, noch mehr Terror verbreitet hätte, war nicht abwegig. Als die Meldung kam, dass die Befreiung der Geiseln aus der nach Mogadischu entführten Lufthansa-Maschine geglückt war, hat Helmut Schmidt geweint.

Stählern und unerbittlich

Schmidts Rationalität hatte indes auch eine hässliche, mitleidslose Seite. 1975 erklärte er auf einer SPD-Parteiveranstaltung unter tosendem Applaus, dass die Linksterroristen nicht erwarten können, „in einem Erholungsheim untergebracht zu werden und die Unbequemlichkeit eines Gefängnisses auf sich nehmen müssen“. Erholungsheim? Ein paar Tage zuvor war Holger Meins im Gefängnis nach 58 Tagen Hungerstreik gestorben. Solche Sätze, stählern und unerbittlich, waren der Stoff, mit dem die RAF ihren Nachwuchs rekrutierte.

Dass „68“ ein Projektionsspiel der Generationen war, blieb für Schmidt, der sich so viel auf seinen scharfen Verstand einbildete, ein blinder Fleck. Er hielt die Linksextremen für Wiedergänger der Nazis – die Linksmilitanten sahen in ihm den Oberstleutnant von Hitlers Armee, der an der Blockade von Leningrad und dem Vernichtungskrieg im Osten beteiligt war. Diese tragische Pointe hat er nie verstanden, so wenig wie die Wachstumsskepsis der Grünen. Ökologie hielt er lange für eine Marotte gelangweilter Mittelstandsdamen. Der starre Blick auf das Machbare war manchmal ein Tunnelblick.

War er ein großer Kanzler? Nein, und er konnte es nicht sein. Der kühne, weitblickende Plan, wie ihn Egon Bahr und Willy Brandt mit der Ostpolitik entworfen hatten, war nicht sein Spielfeld. Sein nachhaltigster Erfolg als Kanzler war die Etablierung des Europäischen Währungssystems EWS im Jahr 1979, das später Grundstein für den Euro wurde. Sein größter Fehler war die Aufrüstung mit Pershing-II-Atomraketen, die er US-Präsident Jimmy Carter (den er als Moralisten verachtete) aufschwatzte. Gegen die Nachrüstung gingen in der Bundesrepublik Hunderttausende auf die Straße, die SPD rebellierte. Effektiver als Schmidt hat kein Politiker den Aufstieg der Grünen beflügelt. Auch die Gründung der taz als Medium der Gegenöffentlichkeit war eine Antwort auf Schmidts autoritäres Krisenmanagement im Deutschen Herbst.

Dass die Pershings den Zusammenbruch der Sowjetunion beschleunigt oder gar verursacht hätten, ist Legende. Dafür war die KSZE-Schlussakte, die 1975 den Anspruch auf Menschen- und Bürgerrechte auch im Osten verbriefte, viel wichtiger. Und die entsprang dem Geist von Willy Brandts Entspannungspolitik, nicht Helmut Schmidts Raketenzählerei.

Der mitunter bizarre Schmidt-Kult der letzten zehn, fünfzehn Jahre füllte eine Leerstelle – eine Sehnsucht nach Führung, Erfahrung, Auto­rität. Schmidt war die geeignete ­Projektionsfläche

Auf dem Kölner Parteitag 1983 stimmten neben Schmidt 14 Genossen für die Nato-Nachrüstung, 400 dagegen. Das war die Antwort der SPD auf Schmidts, später von Schröder imitierter Art, die Partei mit Machtworten zu erpressen. So rabiat wie Schmidt wurde kein anderer führender Sozialdemokrat je vom Hof gejagt.

Mit knorriger Lakonie

Die Deutschen fassten zu ihm als alten Mann und Kanzler a. D. eine fast obsessive Zuneigung. Es gab kaum ein Jahr ohne ein Buch von ihm oder über ihn auf den Bestsellerlisten. In Talkshows wurde er andächtig zu anstehenden Weltproblemen befragt. Er rauchte unverdrossen – alle fanden es cool, dass ein hustender Altbundeskanzler in knappen Sätzen und mit knorriger Lakonie die Welt erklärte.

Der mitunter bizarre Schmidt-Kult der letzten zehn, fünfzehn Jahre füllte eine Leerstelle – eine Sehnsucht nach Führung, Erfahrung, Autorität. Schmidt war die geeignete Projektionsfläche. Das allzu Brüske war im Alter ins Milde abgeschliffen. Aber nie so milde, dass nicht doch scharfe Urteile folgten. Schmidt verdammte, scheinbar links, den Finanzkapitalismus und den Kosovokrieg, und, scheinbar rechts, zu viel Staat, den Ausstieg aus der Atomenergie und zu viel Sozialstaat.

Er wechselte wie ein Schauspieler die Rollen, gab mal den global denkenden Chefanalytiker, mal den Mann von der Straße, der seine Steuererklärung nicht versteht. Das hellsichtige Urteil und der dünkelhafte Kurzschluss, wie die Verdammung von Multikulti als linke Spinnerei, siedelten bei ihm nahe beieinander. Das Geheimnis seines Erfolgs als Publizist war, dass er postideologisch dachte, aber nie langweilte. Und er schien bundesdeutsche Geschichte und Vorgeschichte, von 1945 bis zur RAF, von Per­shing bis zu 1989, in angenehm distanzierter Weise zu verkörpern. Dass er, wie viele Deutsche, recht vergesslich war, was seine Rolle in der NS-Zeit anging, wurde milde übersehen.

Auf SPD-Parteitagen wurde er als Greis bejubelt, wie ein lebendes Denkmal. Das war vielleicht ein letztes Missverständnis in der komplizierten, kurvenreichen Beziehung zwischen Helmut Schmidt und der SPD.

Ein Sozialdemokrat war er so wenig, wie Angela Merkel Christdemokratin ist.

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