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Gehörter Tanz

URAUFFÜHRUNG Die Tanzperformance „Voy!“ experimentiert im Rahmen des inklusiven Tanzfestivals „EigenARTtig“ in der Schwankhalle mit Blindheit und dem Ausschöpfen der Sinne

Eine Tänzerin formuliert mit maliziösem Lächeln: „Die Gabel kratzt über den Topfboden – Styropor wird aneinander gerieben – Zahnarztbohrer …“ Auf die fiesen, verbal vorgestellten Geräusche reagiert das Publikum mit Schaudern und Stöhnen. Es übersetzt also Worte in Klänge, dann in abwehrende Gefühle und erlebt, was zu sehen ist, wenn man nichts sieht: eine Tanz-Performance, für die man sich eine Maske vor die Augen ziehen kann. „Voy!“, eine dem Genre „bewegtes Experiment“ zugeordnete Uraufführung, wurde von Birgit Freitag und Adriana Könemann mit der Company tanzbar_bremen entwickelt und jetzt beim inklusiven Tanzkunstfestival „EigenARTtig“ in der Schwankhalle präsentiert.

Damit wird geradezu ein Trend bedient – gibt es doch Dunkelkonzerte, „Dinner in the dark“, lichtlose Museumsangebote, Live-Hörspiele auf Probebühnen, wo nicht einmal das Notausgangsschild mehr leuchtet. All das erfreut nicht nur Blinde und Sehbehinderte – auch Menschen, die schon alles gesehen haben. Denn wer plötzlich nichts sieht, fühlt, schmeckt und hört sensibler. Unsere Sinne dienen ja der Lebensgefahrenerkennung, und wenn einer ausfällt, müssen die anderen ihre Wahrnehmungen intensivieren.

Selbst wenn die totale Dunkelheit um totale Ruhe ergänzt wird, ist kein Sturz ins Nichts zu erleben. Das Hirn wehrt sich gegen die Orientierungslosigkeit, bastelt sich selbst Halt, indem es Schemen vor dem nur noch geistigen Auge flimmern lässt.

Nicht sehen heißt also: anders sehen, Bilder assoziieren. Schaut man beispielsweise nicht hin, wenn die Mitwirkenden des Abends wortreich vorgestellt werden, sieht man sie trotzdem. Wenn sich eine Workshop-Teilnehmerin an Gewässer erinnert, die sie an ihren verschiedenen Lebensstationen erlebt hat, erblickt man mit geschlossenen Augen die Weser an den Café-Sand-Strand wellen, das Meer vor Lagos plätschern – und entdeckt bei geöffneten Augen, wie Tänzerkörper mit halb gefüllten Wasserflaschen auf der Bühne hin und her wogen.

Aber wenn mit einem Klöterball des Blindenfußballs gespielt wird, ist es auch blicklos möglich, seinen Aufenthaltsort, seine Bewegungen im Raum zu bestimmen. Sind solche Selbsterfahrungen nun erhellend – oder auch etwas banal? Einem Zuschauer, der sich die Vorstellung erst ohne, dann mit blickdichter Augenmaske anschaute, kam sie „viel kürzer, aber nicht kurzweiliger“ vor, vom Lachen des Publikums fühlte er sich ausgeschlossen. Weil die spärlichen akustischen Reize eben selten etwas über die optischen Reize verrieten.

Es ist etwas elementar anderes, ob man das Ensemble, dem seinerseits auch Sehbehindete angehören, nur schnaufen hört und damit den eigenen Film im Kopf startet, oder zuschaut, wie alle gerade eine Sitztanzchoreografie ausführen – und kein Film startet. Großes Kino, reizvolles Theater schließlich, wenn blind spielende Zuschauer an Gummibändern durch den Saal geführt und zu Bewegungen wider ihre Unsicherheit animiert werden – dank Minimal-Techno, der in Zeitlupe aus den Lautsprechern tröpfelt. Ein bewegendes Experiment also. Jens Fischer

Festivalprogramm (bis 8.11.):www.tanzbarbremen.com/festival-eigenartig/

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