piwik no script img

Das Tor zum Garten

Stadtnatur Erntezeit im Comenius-Garten in Neukölln: Hier erforschen Kinder die Natur – selbstbestimmt und offen für Experimente. Wer will, darf gerne auch Bonbons pflanzen

Text Julian Rodemann Fotos Erik-Jan Ouwerkerk

Henning Vierck macht zwei schnelle Schritte durch die Kräuterwiese. Er streckt sich nach einer Birne und pflückt sie vom Ast, zückt ein rotbraunes Taschenmesser, klappt es auf, teilt die Birne in zwei Stücke. „Sehen Sie“, sagt er, „das ist die Lösung für die Konkurrenz zwischen Menschen: Teilen.“

Vierck steht im Comenius-Garten in Neukölln. Der 67-jährige Wissenschaftshistoriker hat ihn vor 23 Jahren auf dem Gelände einer ehemaligen Mietskaserne gegründet, zwischen Böhmischen Dorf und Karl-Marx-Straße. Hier wachsen diagonal gepflanzte Rosen, 30 verschiedene Beerenarten und wilde Gräser. Der Garten ist Johann Amos Comenius gewidmet, einem Pädagogen und Philosophen des 17. Jahrhunderts. Comenius lehrte zwangsfreien Unterricht und selbstbestimmtes Lernen durch Tun. Der Comenius-Garten ist eine Art philosophische Schule im Grünen. Träger ist der Förderverein „Böhmisches Dorf“. Das Geld für den Garten kommt vom Land Berlin – 110.000 Euro pro Jahr.

„Forschen bedeutet für Comenius irren“

Henning Vierck vom Comenius-Garten

Henning Vierck steckt sein Taschenmesser wieder ein. Er wiederholt: „Teilen.“ Okay, verstanden. Nur: Was ist, wenn nichts mehr da ist, was man teilen kann? „Ressourcen sind knapp“, sagt Vierck. Er deutet auf das Obst, das auf der Wiese ringsum liegt, und schnappt sich eine Frucht. Sie sieht aus wie die winzige Kopie einer Birne. „Das ist eine Wildbirne, sie steht für die ursprüngliche Natur, die der Mensch vorfindet.“ Um zu überleben, müssten wir forschen, erklärt er. Erforschen, wie aus der Wildbirne eine saftige, goldgelbe Birne wird.

Henning Vierck huscht durch seinen Garten wie ein 20-Jähriger. Er geht schnell, rückt dabei seine randlose Brille zurecht. Jede zweite Frage beantwortet er mit Comenius. „Forschen bedeutet für Comenius irren“, sagt er durch seinen weißen Vollbart.

„Wir sind jetzt im Irrgarten.“ Jeden Vormittag kommt eine Kita-Gruppe hierher, um auszuprobieren, was ihnen in den Sinn kommt – „um zu irren“. Die Kinder pflanzen Bonbons und Glasscherben in die Erde. „Niemand bestimmt, wie sie es tun sollen“, erklärt Vierck. Und zitiert Comenius: „Wenn Mühlsteine fertig gemahlenes Mehl mahlen, dann zerbersten sie mit Krachen.“ Man dürfe Kindern kein „fertig gemahlenes“ Wissen auftischen. Das sei – Vierck reißt seine Augen auf – „eine Katastrophe“.

Nicht nur die Kinder experimentieren, auch Vierck forscht – mit ihnen. „Kinder haben oft Gedanken, wie sie in der Wissenschaft vor Hunderten Jahren vorkamen“, erklärt der Wissenschaftshistoriker. Um zu verstehen, wie Forscher damals auf die Welt blickten, sei er auf die Kinder angewiesen. Sein fünfköpfiges Team arbeitet mit ihnen an Projekten, es geht um Zeit, um Licht oder um „das Nichts“.

Die Forscher arbeiten mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte zusammen. Die Senatsverwaltung für Bildung finanziert die Lernwerkstatt – etwa 10.000 Euro bekomme er im Jahr, sagt Vierck. Zurzeit treffen sie sich in der Richard-Grundschule, gleich neben dem Garten. „Über 2.000 Kinder sind in unserem Einzugsgebiet“, sagt Vierck. Die meisten haben einen Migra­tions­hintergrund.

Ece ist sieben Jahre alt und erst zum zweiten Mal in der Lernwerkstatt. Ihr Freund Ali hat sie mitgenommen. Ece trägt eine rosa Jogginghose und legt ihren glitzernden Schulranzen in die Ecke. Sie klettert auf einen Tisch und erzählt von ihrer Idee: Ece will verwelkte Blätter im Ofen erhitzen. „Damit sie so heiß werden wie im Sommer.“ Doch das Experiment muss verschoben werden – der Ofen funktioniert nicht.

Funktioniert Viercks, funktioniert Comenius’‘ Pädagogik? Was machen die Kinder mit ihrer Freiheit? Am Eingang des Gartens trifft Vierck einen Jungen, er kommt aus dem Irrgarten. „Na, was habt ihr erforscht?“, fragt Vierck. Der Junge schaut nach unten auf den Trampelpfad. Er grinst. „Wir haben Blödsinn gemacht.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen