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Weniger ist oft mehr

Maßhalten Kaum jemand leidet an zu wenig Behandlung, viele dagegen am therapeutischen Overkill. Kann die Komplementärmedizin es besser? Eine Tagung in Berlin wollte das herausfinden

Was ist das richtige Maß an medizinischer Behandlung? Ist unser Gesundheitssystem zu sehr an Intervention und zu wenig an Prävention ausgerichtet? Gibt es Alternativen zum schnellen Griff zur Tablette? Diesen Fragen ging kürzlich das wissenschaftliche Symposium „Weniger ist mehr. Neue Wege für den Patienten in die Gesundheitsversorgung“ nach, bei dem sich Forscher in der Berliner Repräsentanz der Robert Bosch Stiftung trafen. „Bei der Tagung sollte vermittelt werden, dass natürlich im Akutfall die Medizin quasi reparierend eingreifen muss“, erklärt Harald Walach, Mitorganisator und Leiter des Instituts für transkulturelle Gesundheitswissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). „Aber rund 80 Prozent der Krankheitsfälle sind chronische Krankheiten, längerfristige Probleme oder lebensstilbedingt. Da ist die Reparaturmetapher wenig sinnvoll“, so Walach.

Stattdessen setzten die Forscher für diesen Großteil von medizinischen Problemen auf einen Lösungsansatz, den die Tagung bereits im Titel präsentierte: Weniger ist oft mehr. So plädierten die Mediziner dafür, mehr auf Prävention, Lebensstilmodifikation sowie den gezielten Einsatz von Methoden der Komplementärmedizin zu setzen – Faktoren, die auch das Gesundheitssystem finanziell entlasten würden. Auch die Stärkung der Eigenverantwortung und Selbstachtsamkeit der Patienten stand im Mittelpunkt: „Eine wichtige Rolle spielen die Selbstheilungskräfte. Wir müssen uns Bedingungen schaffen, dass wir gut funktionieren, wie ausreichend schlafen oder eine Umgebung ohne Reizüberforderung“, so Walach.

Allerdings verweist der Wissenschaftshistoriker und Psychologe darauf, dass der Umgang mit Gesundheit und die Erwartungen an einen Arztbesuch oft auf kollektiv erworbenen Mustern beruhen: „Es gibt meiner Meinung nach eine Verzerrung der Wahrnehmung, dass eine Behandlung immer besser ist als keine. Manchmal ist Nicht-Behandlung oder Abwarten die bessere Lösung.“ So sei beispielsweise erwiesen, dass die Verordnung von Antibiotika für Kinder bei selbstlimitierenden Infekten oft unnötig sei. Doch häufig seien wir so auf Medikamentierung konditioniert, dass sich viele Ärzte quasi unter Verschreibungszwang fühlten.

Auch die gesundheitlichen Folgen der Übermedikamentierung und Nebenwirkungen von Pharmazeutika standen auch auf Agenda der Tagung. Mit dem dänischen Medizinforscher Peter C. Gøtzsche, zugleich Facharzt für innere Medizin und Leiter des Kopenhagener Cochrane-Zentrums, war ein vehementer Kritiker der Pharmaindustrie als Referent eingeladen. Der Verfasser des Buches „Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität“ stellt daran die These auf, dass jeder dritte Todesfall in Europa und Nordamerika nicht durch Herzinfarkte oder Karzinome verursacht wird, sondern durch die Nebenwirkung von Medikamenten. Auf dem Symposium setzte er sich kritisch mit den starken Nebenwirkungen von Antidepressiva auseinander.

Zu unnötigen Pillencocktails forscht auch eine Arbeitsgruppe um Andreas Sönnichsen, Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der Universität Witten/Herdecke. Sie veröffentlichte nun eine Vorabstudie mit Patienten, denen im Schnitt neun Tabletten am Tag verordnet waren. Dabei kamen sie zu dem Schluss, dass fast ein Drittel der Medikamente ohne Evidenzbasis verschrieben werde, das heißt, es keinen wissenschaftlichen Nachweis für deren Nutzen gebe. „Die Haus­ärzte der betroffenen Patienten fühlen sich überfordert. Wie sollen sie die langen Medikationslisten, mit denen Patienten aus der Klinik entlassen werden oder von verschiedenen Fachärzten zurückkommen, kritisch durchforsten?“, fragt Sönnichsen. Deshalb soll mit der Studie auch den Hausärzten geholfen werden und für sie auf der Grundlage von Diagnosen, Laborwerten und Begleiterkrankungen eine elektronische Datengrundlage erstellt werden, um sie bei der Bewertung von Medikamenten und damit eventuell auch der Empfehlung zum Weglassen zu unterstützen. Auch hier scheint weniger mehr zu sein. Heide Reinhäckel

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