Die Kunst, über den Schmerz zu erzählen

Weißrussland Die frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch stellte sich in Berlin den Fragen der Journalisten

Ein freies Land ­brauche freie Bürger, daran hapere es, ­so Alexijewitsch

Die Bundespressekonferenz gleicht am Samstagmittag ein wenig dem Berlinale-Palast bei Hochbetrieb. Der imaginierte rote Teppich ist vor der frischgebackenen Literaturnobelpreisträgerin ausgerollt. Zahlreiche Journalisten sind frühzeitig angereist, weil wohl keiner wusste, wie und ob man sich durch Hunderttausende TTIP-Demons­tran­ten im Regierungsviertel durchkämpfen würde.

Swetlana Alexijewitsch hat sich durchgekämpft. Strahlend, gefasst und würdevoll betritt die zierliche Frau den Saal voll Dutzender Kameras. „Oh mein Gott“, murmelt sie kaum wahrnehmbar, während sie den Zurufen der Fotografen folgt. Sie ist Weißrussin. Am Sonntag finden in ihrer Heimat Präsidentschaftswahlen statt. Dass diese im internationalen Rampenlicht stehen werden, ist ihr zu verdanken. So viel Weißrussland war noch nie in Berlin.

Auch in Minsk selbst anscheinend nicht. Zu einer spontanen Pressekonferenz in der Redaktion einer oppositionellen Zeitung seien nach der Preisvergabe am Donnerstag so viele gekommen, erzählt Alexijewitsch, dass man auf dem Fußboden gesessen habe. („Sie knieten alle vor ihr“, twitterte eine Journalistin.) Auf der Straße habe man einander umarmt und vor Freude geweint, ihr aus den Fenstern Blumen zugeworfen, in den Büros sollen Sektflaschen entkorkt worden sein.

Dabei waren ihre Bücher bis vor Kurzem in weißrussischen Buchhandlungen nicht erhältlich. Ihr Name war nach dem Tschernobyl-Buch (1997) aus der Öffentlichkeit verschwunden. Wohl wegen solcher Sätze: „Mir wurde gestern aufs Neue klar, in was für einem erniedrigten Land ich lebe. Einem Land, dessen Bürger eingeschüchtert und gebeugt laufen. Einem Land, das nach einem Wunder durstet. Daher diese Reaktion jetzt!“ Oder auch: „Russland wird Lukaschenko niemals gehen lassen. Dafür braucht es nicht einmal grüne Männchen. Putin muss nur Gas- und Ölleitungen kappen, und schon sitzen wir auf einer Eisscholle, frierend und fluchend.“

Sie redet wie ihre Bücher: ­direkt, schnörkellos, die große Meisterin der „Kunst, über den Schmerz zu erzählen“. Warum spreche die Literaturnobelpreisträgerin immer nur über Politik, will eine Journalistin wissen. Liebend gern würde sie sich über Literatur unter­halten, aber sie beantworte bloß die ­Fragen der Anwesenden. Lacher im Raum. Ein kurzer ­Augenblick zum Luftholen. Denn allein dieser Frau zuzuhören erfordert Anstrengung. „Mündliche Intelligenz“ nennt sie das, das habe sie wohl als Kind bei den Frauen im Dorf gelernt.

Bis zu 500 Interviews führt Alexijewitsch für ein Buch. „Um Neues zu hören, muss man neu erfragen können. Das ist Höllenarbeit. Deswegen brauche ich bis zu zehn Jahre für ein Buch!“, sagt sie. Die zehn Jahre, die sie im Westen gelebt habe, seien für sie immens wichtig gewesen. Einerseits sei sie der Gefahr entgangen, eine „Barrikadenschriftstellerin“ zu werden, wie es in Russland mit vielen passiert sei. Andererseits sei sie im Westen die Illusion losgeworden, dass man die Demokratie wie Schweizer Schokolade importieren könne.

Ein freies Land brauche freie Bürger, daran hapere es. Seit 30 Jahren erforsche sie den „roten“, den (post)sowjetischen Menschen nun. Aber sie wisse nicht, wie lange er noch am Leben bleiben werde. Ganz im Gegenteil, in Russland läsen junge Menschen wieder Marx und Lenin. Stalin sei erneut zur Leitfigur geworden. Der kollektive ­Putin sitze in jedem Russen, zumindest in den 86 Prozent, die hinter ihm stünden. Das mache ihr große Angst. Als sie nach anderthalb Stunden Autogramme gibt, zittern ihre Hände. „Ich muss erst mal darüber schlafen“, sagt sie. Jarina Kajafa