Ein Fall zum Verzweifeln

„Für uns war klar: Das muss ein Missverständnis sein. Das wird sich schnell erledigen“

AUS POTSDAM ASTRID GEISLER

Wie sich Julia S. an ihrem 22. Geburtstag gefühlt hat, wissen wir nicht. Es war ein Freitag, und Besuch war nicht gestattet im Gefängnis Luckau-Duben. Ihre Gäste, eigens aus dem 100 Kilometer entfernten Potsdam angereist, kamen deshalb nur bis zum Tor der Haftanstalt. Da stellten sie sich auf, sangen ein Ständchen für die Freundin drinnen – und protestierten. Gegen das, was ihrer Ansicht nach ein Skandal ist: dass Julia S., die Leiterin eines Potsdamer Jugendhauses, seit Juni wegen versuchten Mordes in Untersuchungshaft sitzt.

Man würde die Inhaftierte gerne viel fragen. Nicht nur, was sie mitbekommen hat von der Darbietung zu ihren Ehren draußen vor dem Gefängnis im südlichen Brandenburg. Vor allem, was sie sagt zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft. Ihr Anwalt aber bittet um Verständnis: Seine Mandantin darf nicht telefonieren, nur jeden zweiten Dienstag überhaupt Besuch empfangen, drei Personen, für eine halbe Stunde. Für ein Interview bleibe da keine Zeit. Zumal er Julia ohnehin geraten habe, zu schweigen zu ihrem Fall. Aus Gründen der Prozesstaktik.

Glaubt man der Potsdamer Staatsanwaltschaft, wollte Julia S. in der Nacht zum 19. Juni gemeinsam mit vier jungen Leuten aus der linken Szene einen 16-jährigen Rechtsextremen ermorden. Gemeinsam sollen sie auf Benjamin Ö. losgegangen sein, ihn getreten und geschlagen haben, auch auf den Kopf, auch mit einem Teleskopschlagstock.

„Es ging ihnen darum, Benjamin Ö. zu erschlagen – weil er ein Rechter war“, sagt Benedikt Welfens, der Sprecher der Potsdamer Staatsanwaltschaft. Und dies sei ein „niederer Beweggrund“, also ein Mordmerkmal. Dass der 16-Jährige mit Prellungen und einer Platzwunde am Kopf davonkam, spiele keine Rolle. Schließlich könne ein einziger Hieb mit einer solchen Waffe tödlich sein.

Welfens kennt den Fall selbst nur aus zweiter Hand. Doch ein Gespräch mit dem zuständigen Kollegen aus der Staatsschutzabteilung will er nicht vermitteln, nicht einmal dessen Namen verraten. Kein Wunder: Staatsanwalt Peter Petersen steht wegen des Verfahrens seit Wochen in der Kritik. In einem offenen Brief verurteilte ein breites Bündnis vom Landesvorsitzenden der brandenburgischen Grünen bis zum Dekan der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen den Umgang mit der jungen Frau, forderte, sie sofort freizulassen.

Der Vorfall, der Julia S. vor nunmehr vier Monaten ins Gefängnis brachte, ereignete sich mitten in der Fußgängerzone von Potsdam, nachts zwar, aber beobachtet von vielen Zeugen. Trotzdem sind die Fakten dürr. Wer jagte wen, warum? Wer war Täter, wer Opfer?

Fest steht, dass die gegen Julia S. erhobenen Vorwürfe nicht zu dem passen, was in Potsdam bisher Tradition war: Rechtsextreme jagen Ausländer und Punks, hetzen, wen sie für links und schlagbar befinden. Gut, böse, Täter, Opfer. Bisher schien das klar sortiert. Und jetzt?

Nora Wölk kann sich nicht vorstellen, dass ihre Freundin und Mitbewohnerin töten wollte: Ausgerechnet Julia S., diese Idealistin, die mit einem Judaistikstudium liebäugelte, die im Sommer eigentlich eine Jugendreise betreuen wollte, deren Arbeit von der Landeszentrale für Politische Bildung gefördert wurde, die Fahnder am Montag nach der Tat beim Erste-Hilfe-Kurs verhafteten? „Diese Geschichte passt einfach nicht zu Julia“, sagt Wölk. Burschikos und humorvoll, so kannte sie die Freundin seit der Schulzeit. Eine nachdenkliche, friedliche und unkomplizierte Person.

Seit drei Jahren drehte sich ihr Leben um das von ihr mitbegründete Wohn- und Bildungsprojekt Chamäleon e. V. Ihr Name steht noch an der Haustür, bis heute ist sie Vorsitzende und Sprecherin des Vereins. Die neun Bewohner hatten vieles geteilt mit Julia S.: Matratzenlager, Badezimmer, Frühstückstisch. Eine Idee vom Leben jenseits des Job-Familie-Einfamilienhaus-Modells; den Traum, die von der Stadt zur Verfügung gestellte Bruchbude am Rande der Altstadt zu renovieren und in ein Zentrum für alternative politische Bildungsarbeit zu verwandeln. Mehrfach wurde die Einrichtung von Neonazis überfallen, Julia S. sagte vor Gericht als Belastungszeugin gegen Rechtsextreme aus.

Nora Wölk berichtet unaufgeregt von jener Nacht, die Julia S. ins Gefängnis bringen sollte: Sie hatten die jüngste Mitbewohnerin zum Abi-Ball begleitet; weil der nicht sonderlich aufregend war, brachen die Freunde bei Zeiten auf. Einige zog es in die Disko, andere nicht. „Wir hatten einen netten Abend hinter uns“, sagt Nora Wölk. „Julia wollte noch einen Döner essen. Dann kam sie einfach nicht wieder.“

Laut Polizeibericht soll sich die Schlägerei gleich gegenüber dem Dönerladen zugetragen haben, vor dem Traditionscafé „Heider“, auf einem der belebtesten Plätze am Ende der Fußgängerzone.

Nora Wölk sagt: „Für uns war klar: Das muss ein Missverständnis sein, das wird sich schnell erledigen.“

Doch die Freunde irrten.

Mehr als vier Monate nach der Tat wartet Verteidiger Steffen Sauer noch immer auf die Anklageschrift. Seine Unterlagen zu dem Fall füllen bisher nicht mal einen Aktenordner. Es gebe zwar „dutzende“ Aussagen von Zeugen, die „alles Mögliche“ gesehen hätten, berichtet der Anwalt: Angeblich seien fünf junge Leute hinter Benjamin Ö. hergerannt, angeblich auch Julia S. Wie und warum es dazu kam, sei nicht geklärt. Kein einziger Beobachter behaupte aber, dass seine Mandantin selbst zugeschlagen oder getreten, dass sie das Opfer auch nur berührt habe.

Dennoch sitzt ausgerechnet Julia S. noch immer im Gefängnis, die vier anderen Beschuldigten sind längst wieder frei.

Für die Potsdamer Ermittlungsbehörde entspricht das schlicht den Regeln des Strafrechts. Der Staatsanwalt klassifizierte den Fall als „gemeinschaftlich“ begangene Tat. Egal wer geschlagen und wer den anderen dabei zugeschaut habe, entscheidend sei, dass die fünf jungen Leute alle das gleiche Ziel verfolgt hätten, erläutert sein Sprecher: „Wer bei einem Diebstahl für den Kumpel Schmiere steht, kann hinterher auch nicht sagen: Ich hab doch nur vor der Tür gewartet.“

Weil Julia S. die älteste der Beschuldigten ist, die einzige Erwachsene, drohen ihr mindestens drei Jahre Gefängnis. Die Staatsanwaltschaft unterstellt deshalb, bei ihr sei die Fluchtgefahr besonders groß. Drei Richter haben inzwischen die Untersuchungshaft von Julia S. überprüft, bis hinauf zum Oberlandesgericht. Keiner fand die Haftbeschwerden ihres Verteidigers stichhaltig, keiner die Argumente der Staatsanwaltschaft abwegig.

So nebulös die Faktenlage bisher ist, auf der Gegenseite betrachtet man den Fall längst als ein Politikum. Nicht etwa weil junge Leute aus dem linken Spektrum auf Gewalt gesetzt haben sollen statt auf Argumente. Der Vorwurf: Die 22-jährige mutmaßliche Gewalttäterin werde nur benutzt. Sie müsse herhalten für ein Exempel, statuiert durch einen Staatsanwalt, der bekannt sei für seine kompromisslose, knallharte Art.

„Rechte und linke Schläger werden hier unterschiedlich behandelt, das ist doch augenfällig“, sagt Lutz Boede. Der Kneipenwirt aus Babelsberg ist nicht irgendwer in Potsdam. Er sitzt im kommunalen Beirat gegen Rechtsextremismus, ist seit Jahren aktiv in der Kampagne gegen Wehrpflicht und in der alternativen Wählergruppe Die Andere. Auch er hat den offenen Solidaritätsbrief für Julia S. unterschrieben. Was die Staatsanwaltschaft in ihrem Fall als versuchten Mord einstufe, hätten die Ankläger Schlägern aus dem rechtsextremen Milieu höchstens als gefährliche Körperverletzung ausgelegt, sagt der 40-Jährige. Für ihn ist das Ziel dieser „Ungleichbehandlung“ klar: Obwohl in den letzten Jahren in Potsdam die Serie gewalttätiger Auseinandersetzungen eindeutig von rechtsextremer Seite geschürt worden sei, solle nun über das „Konstrukt einer Gewaltspirale“ die linke Szene kriminalisiert und diskreditiert werden. „Das ist ein Skandal“, sagt er. „Das ist politische Justiz.“ Zumal die Staatsanwaltschaft ihre Vorwürfe gegen Julia S. vor allem auf Aussagen rechtsextremer Zeugen stütze.

Konfrontiert mit dem Wirrwarr von Gerüchten und Vorwürfen, wirkt das Lächeln von Steffen Sauer ein wenig verzweifelt. Nein, versichert er, die Vorwürfe gegen seine Mandantin beruhten längst nicht nur auf Aussagen aus der rechtsextremen Szene. Auch eine politische Verschwörung taucht in seiner Argumentation nicht auf. Sauer verzichtet auf das Wort „Skandal“. Selbst wenn die Staatsanwaltschaft auf ein Exempel aus sein sollte, sagt er: „Bei den Gerichten kann ich mir das nicht vorstellen.“ Seine Erklärung? Da passt der Jurist: „Ich weiß es einfach nicht.“

Für Julia S. heißt das: weiter warten. Dass die Staatsanwaltschaft nach mehr als vier Monaten endlich die Anklage vorlegt. Dass der Prozess beginnt. Klar ist bisher nur: Stattfinden soll er im Landgericht. Das Gebäude kennt die 22-Jährige gut. Hier sagte sie schon aus. Und es liegt gleich hinter dem Nauener Tor in der Potsdamer Altstadt. Zum Tatort sind es von dort keine zwei Minuten.