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"Plastischer als Opferzahlen"

Aufarbeitung Ein Enkel erforscht und erzählt die Geschichte der jüdischen Familie Wohlwill

Matthias Brandis

76, bis 2008 Professor für Kinderheilkunde und Chef der Uniklinik Freiburg, ist Enkel von Heinrich Wohlwill.

taz: Herr Brandis, was bedeutete die Familie Wohlwill, zu der Sie gehören, für Hamburg?

Matthias Brandis: Es war eine bürgerliche jüdische Familie des 19. und 20. Jahrhunderts, die wichtige Funktionen in der Gesellschaft wahrnahm und Forscher, Kaufleute und Künstler hervorbrachte.

Wie jüdisch lebten Wohlwills?

Mein Ur-Ur-Ur-Urgroßvater leitete eine Talmud-Schule, aber sein 1799 geborener Sohn Joel Wolf und alle folgenden Generationen waren Freidenker. Joel Wolf hat seinen Namen sogar Mitte des 19. Jahrhunderts in Immanuel Wohlwill geändert, um seine religiöse Liberalität zu bekunden.

Weitere bekannte Wohlwills?

Mein Urgroßvater Emil erfand eine Methode industrieller Gold- und Silbergewinnung und wurde Vorstandschef der Norddeutschen Affinerie. Sein Sohn Heinrich, mein Großvater, erfand eine Methode, Kupfer rückzugewinnen. Nach Emils Schwester Anna, Leiterin der Schule des Paulsenstifts, ist eine Straße in St. Pauli benannt. Und Heinrichs Schwester Gretchen war Malerin und Gründerin der Hamburger Secession.

Wie erging es der Familie in der Nazizeit?

Fast alle konnten emigrieren, aber mein Großvater Heinrich, seine Frau Hedwig und seine Schwester Sophie wurden ins KZ Theresienstadt deportiert und starben in der Haft oder an deren Folgen.

Seit wann erforschen Sie Ihre Familiengeschichte?

Seit mein Sohn vor einigen Jahren Näheres wissen wollte. Bei meinen Kusinen in Australien etwa habe ich Briefe gefunden, die mein Großvater von 1939 bis 1942 an seinen emigrierten Sohn schrieb. Sie enthalten natürlich keinen Klartext, aber durchaus Sätze wie „Heute sind wir in die Stadt gegangen, um unser ganzes Silber abzugeben.“

Was empfinden Sie bei dieser Lektüre?

Ich muss mich stark zusammennehmen, um nicht zu weinen.

Dann fällt Ihnen der heutige Vortrag nicht leicht.

Nein. Aber ich tue es. Denn eine konkrete Familiengeschichte wirkt weit plastischer als abstrakte Opferzahlen. Interview:PS

Vortrag von Matthias Brandis über Familie Wohlwill: 18 Uhr, Staats- und Universitätsbibliothek, von-Melle-Park 3

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