: Reality Hunger
Autobiografie Man muss sich gar nichts ausdenken, um sein Leben zu literarisieren: über den Autor Tomas Espedal, der offener ist als sein Freund Karl Ove Knausgård
von Ekkehard Knörer
Zwei große Tendenzen der aktuellen Romanliteratur: Auf der einen Seite ein postpostmoderner künstlicher Realismus, wie ihn der Literaturstar Jonathan Franzen, aber auch viele Absolventen von Creative-Writing-Kursen betreiben. Der Roman als subtextfreie Stoffverarbeitungsmaschine, die nach Bauplänen aus dem 19. Jahrhundert ausgewalzte Psychologismen und klobige Narration ineinander verkeilt. Auf der anderen, sehr viel interessanteren Seite eine erstaunliche Abneigung gegen Fantasie und Fiktion, ein Rückzug aufs Ich, dessen In-der-Welt-Sein strikt autobiografisch vor den Leser hingestellt wird. Karl Ove Knausgård ist der prominenteste und radikalste Fall, David Shields hat mit seinem Manifest „Reality Hunger“ so etwas wie die theoretische Unterlage geliefert.
Die subtilste Variante dieser Tendenz sind sicher die Romane vom Ich des Autors Emmanuel Carrère, der in Frankreichs Kulturszene längst ein Star ist. Er begreift sein Leben als Material auf der Suche nach einer literarischen Form und wird sich selbst so zur Figur, die er beileibe nicht schont. Die Sprache ist – nach ganz anderen Anfängen – die des Berichts, nicht hingerotzt wie die Knausgårds, sondern bewusst reduziert. Während letzterer es darauf anlegt, der eigenen detaillistischen Lebensbeschreibung alles Literarische auszutreiben, was natürlich seinerseits eine eminent literarische Strategie ist, bewegt sich Carrère auf einer Nulllinie, die rhetorische Unauffälligkeit fast unmerklich in unangestrengteste Eleganz umschreibt.
Zwischen den Stühlen
Der Norweger Tomas Espedal gehört fraglos auf die Seite der neueren nichtfiktionalen Romanliteratur. Dennoch liegt sein literarischer Aufenthaltsort zwischen den Stühlen. Er treibt nicht eine bestimmte Form ins Extrem, vielmehr ist die Vielfalt der Gattungsallianzen bei ihm das Programm. Er schreibt Texte, die auf den ersten Blick keine Romane sind, aber in den Experimenten, die er der Prosa zumutet und zutraut, dann sehr entschieden erst recht; die keine Gedichte sind, aber es gibt durchaus lyrische Passagen darin, in unterschiedlichen Varianten; keine Essays, aber Essayistisches ist jederzeit möglich; keine psychologischen Handreichungen an den Leser, aber um Zergliederung des Erlebens geht es sehr wohl; keine Autobiografie sensu stricto, aber Fiktion ist das nicht, jedenfalls erzählt er – zumindest in den bislang übersetzten Büchern – bevorzugt aus dem eigenen Leben.
Das sind also ebenfalls Romane vom Ich. Espedal ist mit Karl Ove Knausgård befreundet, gegen dessen hochaufgelöste memoiristische Selbstanalyse in sechs Bänden er aber schmale Bände setzt, die einander keineswegs gleichen. Dabei hat Espedals Werk eingestandene Nähen zu Knausgårds Projekt, beide haben bei Jon Fosse in Bergen studiert, einmal, im Band „Wider die Natur“, erzählt Espedal sogar von der Knausgård-Lektüre. Er liegt mit seiner Freundin im Bett, beide lesen Knausgård, eine intime literarische Konkurrenzsituation, sie blickt auf und staunt: „Dass er sich das traut, das ist ja ganz unglaublich, er zerstört sich selbst.“
Aber auch Espedal ist ziemlich gnadenlos mit sich selbst. Der jetzt erschienene Band, „Wider die Kunst“ (im Original eigentlich vor dem in Deutschland früher erschienenen „Wider die Natur“ veröffentlicht), erzählt vom Tod von Espedals Mutter; und dem seiner Exfrau Agnete, ein Doppelschlag, durch den er sich als Waise und alleinerziehender Vater wiederfindet. Das ist in gewisser Weise die Ausgangslage des Buchs: Espedal sieht sich in die Mutterrolle gerückt; er sitzt im Haus, das er bald verlassen muss, mit der Tochter, er schreibt und gleitet im Schreiben in die Vergangenheit, in Vergangenheiten zurück.
„Wider die Kunst“ ist ein autobiografischer Familienroman. Jedoch wickelt hier kein Erzähler sein Garn ordentlich ab. Ebensowenig geht es um das quasi-halluzinatorische Heraufbeschwören der Vergangenheit, wie es Knausgård so unüberbietbar betreibt.
Tomas Espedal: "Wider die Kunst". Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Matthes und Seitz Berlin, Berlin 2015, 160 Seiten, 19,90 Euro
Espedal schildert in Szenen Momente aus dem Leben der Vorfahren, wie sich die Großeltern fanden, erinnert sich an die Großmutter, die ihn nach Erinnerungen an den Urgroßvater fragt, die er nicht hat. Begegnungen, Ängste, Konflikte, das Unglück der Großelternehe, das Glück der Anfänge und sein Dahinschwinden werden rekonstruiert, es werden Gespräche und Gedanken und Mahlzeiten, von denen Espedal gar nichts wissen kann, evoziert; also doch auch Fiktion, aber nicht im Sinne einer erfunden Welt, sondern als freihändige Setzung einer möglichen als wirkliche Realität.
Rosen, Schnee, Ebene
Ein Historienepos wird daraus nicht. Die Zeiten, die Jahreszeiten nicht zuletzt, der eine April und der andere, der April, in dem die Mutter stirbt, der April, in dem Agnete stirbt, das schiebt sich übereinander, dazwischen Rosen und etwas Weißes, der Schnee, die Ebene, auf der solche Dinge miteinander zusammenhängen, trifft dieser Roman. Dem es um Stimmungen geht, der voller sanft kreisender Wiederholungen steckt, was aber mit Thomas Bernhard überhaupt nichts zu tun hat, sondern viel eher die Sprache in eine Art Gesang überführt. Einmal erwacht der Erzähler und erblickt einen fremden Arm neben seinem Kopf, „einen alten Arm, die Haut ist runzlig und lose“. Ist es der Arm seiner Mutter, der Arm seiner Großmutter, sein eigener Arm? „In der faltigen Haut am Arm kann ich ein Wort lesen: Alter.“ So wie dieser alte, fremde Arm und der in einer anderen Gegenwart erwachende Erzähler liegen im Buch die Zeiten nebeneinander, unmittelbar, in verwunderlicher Gleichzeitigkeit. Ein Erzählen, das der Vergangenheit mühelos Gegenwart gibt. Kein Akt des Beschwörens, des Heraufholens: Das Vergangene ist so wirklich wie das Gegenwärtige; dass es unrettbar abwesend ist, verleiht dem Buch den Grundton der Trauer. Espedal schreibt sich an den Tod der Mutter heran, aber er stößt dabei, schreibt er, auf eine unüberwindbare Grenze. Die er dann doch überwindet.
„Wider die Kunst“ ist auch ein Buch über eine Schriftstellerwerdung. Also ein Bildungsroman. Der keiner ist. „Ich wollte Romane schreiben, als wären sie Lyrik. Ich wollte so viel, ich schaffte so wenig.“ Jetzt sitzt er im Keller des Hauses, als alleinerziehender Vater, und schreibt. Im Haus, das er verlassen muss. Er ist längst ein bekannter Schriftsteller, er schreibt und schreibt über das Schreiben, er erinnert sich und schreibt über das Sich-Erinnern. Die Bewegung des Buchs ist aber am ehesten eine der Klärung. Die heranströmende Vergangenheit verliert ihre bedrängende Kraft.
„Ein neues Ohr, es wächst aus dem alten heraus.“ Espedal, der Erzähler, zieht aus dem Haus auf dem Land in die Wohnung in der Stadt. Er ist seiner Tochter Mutter und Vater. Er zählt auf, was er alles einkaufen geht. Wieder und wieder nennt er die Namen der Straßen und Viertel, das sind auch in den anderen Büchern (eines heißt „Gehen“) die Spuren, auf denen sein literarischer Orientierungssinn unterwegs ist. Das Buch fällt dabei von Prosa in Lyrik und wieder zurück. Es konzentriert sich und entspannt sich, verrätselt sich und klärt sich wieder.
Frage nach der Form
Was sich so aber fügt, fügt sich nur in und als Literatur. Weil der Roman im emphatischen Sinn immer die offene Frage nach seiner Form als Form war, sind Espedals wie aber auch Knausgårds und Carrères nichtfiktionale Erzählungen geradezu exemplarisch Romane. Sie führen allerdings etwas vor, das dem Roman als Gattung lange nicht unbedingt klar war: dass nämlich das Fiktionalisieren kein notwendiges Wesenselement ist. Das Erlebnismaterial lässt sich auch ohne den Weg über Erfindung, Plotten und Fantasiearbeit literarisieren.
Der Roman ist darum nicht tot, er hat sich nur dem Nichtfiktionalen in neuer Weise geöffnet. In gewisser Weise hatte auch der Nouveau Roman in seinem Rückzug auf die Oberflächen der Wirklichkeit das probiert. Der große Clou von Espedal, Knausgård & Co liegt nun allerdings darin, dass sie dabei aufs höchstpersönliche Autorensubjekt refokussieren.
In der Gnadenlosigkeit mit sich selbst liegt ein protestantischer Zug. Sie erlaubt aber auch, dem Normalen in seiner oft aufwühlenden Banalität jene Größe zu erstatten, die es fürs individuelle Leben, weil es für jeden das einzige ist, nun einmal hat.
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