: Wilde Kaffeesatzleserei auf dem Boulevard
Prognosen Die Bundesregierung dementiert, dass sie in diesem Jahr insgeheim mit mehr als einer Million Flüchtlinge rechnet
Vize-Regierungssprecher Georg Streiter
Die Bundesregierung beeilte sich am Montag, den Bericht zu dementieren. „Dieses Papier kennt kein Mensch“, sagte Vize-Regierungssprecher Georg Streiter. „Deshalb würde ich es auch nicht so hoch ansiedeln“.
Das Innenministerium geht für das Gesamtjahr weiterhin von 800.000 Flüchtlingen aus, die in Deutschland Asyl suchen. In manchen Ländern und Kommunen hält man diese Prognose aber für überholt. Und SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel sprach schon vor Wochen von 1 Million Flüchtlingen, die zu erwarten seien. Aktuelle Zahlen will das Innenministerium in dieser Woche veröffentlichen. Die Rekordzahlen einzelner Tage oder Wochen ließen sich jedoch nicht einfach aufs ganze Jahr hochrechnen, wiegelte dessen Sprecher ab. Der aktuelle Andrang könnte in den Wintermonaten und mit dem Wetter abflauen.
Insgesamt wurden bis zum 31. Juli 2015 in Deutschland 309.000 Flüchtlinge registriert. Seit den Sommermonaten ist diese Zahl sprunghaft angestiegen: Allein im August sollen 104.000 Menschen und bis zum 27. September weitere 136.000 als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sein. Nur ein Teil von ihnen hat Asyl beantragt. Im ersten Halbjahr 2015 gingen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge insgesamt 197. 000 Asylanträge ein. Im Juli waren es 37.531 und im August 2015 weitere 36.422.
Die Asylbehörde ist stark überlastet und ihr fehlt es an Personal, um die Anträge zu bearbeiten. Das wird nun deutlich aufgestockt. Der neue Leiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf), Frank-Jürgen Weise, erklärte in der vergangenen Woche jedoch, er schätze, 290.000 Flüchtlinge in Deutschland seien bislang noch nicht einmal registriert.
„Bisher haben die Prognosen nicht besonders viel gebracht“, sagt Luise Amtsberg, die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, der taz. „Wenn man all die Menschen mitrechnet, die sich aus den Krisenregionen auf den Weg nach Deutschland gemacht haben oder sich aufgrund der schlechten Bedingungen in einem anderen EU-Land erneut auf den Weg gemacht haben, dann ist die Zahl vielleicht nicht völlig aus der Luft gegriffen“, sagt sie über die exklusive Bild-Hochrechnung. Der Nachzug von Familienangehörigen, der über die Botschaften beantragt werden muss, sei aber ein langwieriges und schwieriges Verfahren, sodass sich seriöse Voraussagen verböten.
Weitaus schärfer äußert sich die Linkspartei. „Es handelt sich bei solchen Prognosen um reine Kaffeesatzleserei. Denn es bleibt völlig unklar, wie die Zahlen zustande kommen und welche bereits registrierten oder noch nicht registrierten Flüchtlingsgruppen dabei berücksichtigt werden“, kritisiert Ulla Jelpke, die innenpolitische Sprecherin, gegenüber der taz. „Auf jeden Fall sollte sich die Bundesregierung jetzt vorrangig auf die menschenwürdige Aufnahme und Unterbringung der bereits angekommenen Flüchtlinge konzentrieren.“ Daniel Bax
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