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Ich gehe nicht weg

Exodus I Für die meisten gut ausgebildeten jungen Kubaner ist es inzwischen die erste Option, das Land zu verlassen. Ich kann das nachvollziehen. Aber ich will bleiben

Von María Antonieta Colunga Oliveira

Eine meiner besten Freundinnen studierte zur selben Zeit wie ich an der Universität von Camagüey – sie Architektur, ich Journalismus. Jeden Morgen, wenn ich aufstehe und auf den Balkon der Wohnung meiner Eltern trete, wo ich immer noch wohne, erinnert mich das Schuhschachtelartige der Häuser des Viertels an ihren Feldzug gegen die ästhetische Gedankenlosigkeit des Plattenbaus.

Ihre Abschlussarbeit im fünften Studienjahr lieferte einen schlagenden Beweis dafür, dass man die Vorzüge dieser Bauweise nutzen und viele Menschen mit preiswerten Wohnungen versorgen kann, ohne auf Schönheit zu verzichten. Für sie war Schönheit kein elitäres Überbleibsel des Kapitalismus, und sie bat mich, eine Art Leitsatz dafür zu suchen. Wir fanden ihn schließlich in einer Erzählung der Kubanerin Marilyn Bobes, und sie schrieb ihn auf die erste Seite ihrer Arbeit. Sinngemäß lautete er: Es macht uns intolerant gegenüber Unterschieden, wenn wir unsere Tage jeden Morgen in identischen Gebäuden beginnen.

Größter Verlierer: Kuba

Aber auf den Baugrundstücken zog das örtliche Bauunternehmen am Ende doch wieder die immer gleichen Wohnanlagen im Schuhschachtel-Look hoch. Und ihre Arbeit gesellte sich zu den Tausenden anderen, von denen die Schubladen der nationalen Gedankenlosigkeit überquellen. Ein paar Jahre später ging Kenia nach Kalifornien. Dort restauriert sie heute schöne Gebäude im Auftrag einer kleinen Firma.

Ich könnte ganze Seiten mit solchen Geschichten füllen: die von Barrios, der an einer renommierten Journalismus-Fakultät in Ecuador lehrt, die Familie Oquendo, deren Mitglieder alle in New York medizinischen Berufen nachgehen; mein Vater, Kardiologe und Spezialist für Intensivmedizin, der in einer Privatklinik in Punta Cana Herzen operiert.

Und ich könnte von so vielen anderen wertvollen Menschen berichten, die eines Tages von hier mit einem Diplom in der Tasche ins Ausland aufgebrochen sind, um am Ende Böden zu schrubben, im Supermarkt Preisschilder zu kleben oder am Strand Süßigkeiten zu verkaufen.

Keines der beiden Schicksale erscheint mir gerecht, weder für den, der sich dazu gezwungen sieht auszuwandern, noch für Kuba, das am Ende der größte Verlierer ist.

Wenn ich all diese Fälle aufzähle, packt mich die schreckliche Gewissheit, dass unser wichtigstes Exportgut ausgebildete Menschen sind. Dass wir jedes Jahr Leute in die ganze Welt entlassen, die von Kubas öffentlichem und kostenlosen Bildungssystem ausgezeichnet vorbereitet wurden, Leute, die es müde sind, gegen die Unbeweglichkeit eines Systems anzukämpfen, in dem sie ihre Träume und Wünsche nicht verwirklichen, ja noch nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen können.

Oft heißt es, die Kubaner verließen ihr Land nur aus wirtschaftlichen Beweggründen, und an der Oberfläche ist das auch zweifellos so. Aber die Menschen gehen eben auch weg, weil ihre spirituellen, beruflichen, sozialen Bedürfnisse nicht befriedigt werden.

In den Lebensplänen einer erschütternden Mehrheit der jungen Leute in meinem Umfeld ist der Exodus inzwischen die erste Option. Sehr wenige haben vor zu bleiben, um „das Land voranzubringen”, wie man so sagt. Ihre Wahrnehmung ist: „Man muss hier weg",“Das hier hat keine Zukunft“ ,“Hier will ich kein Kind großziehen”.

Ich kann das durchaus nachvollziehen. Was bietet unsere Nation einem jungen Menschen, der die Gründung einer Familie und eine unabhängige Existenz anstrebt?

Die Realität für jemanden, der mit 23 oder 24 seine Ausbildung abschließt, ist ein Lohn zwischen 15 und 20 Dollar im Monat, was kaum für die Grundnahrungsmittel ausreicht (ein Pfund Schweinefleisch kostet schon anderthalb Dollar, eine Packung Milchpulver auf dem Schwarzmarkt kostet zwei).

An das eigene Haus, wo sich eine Ehe in Frieden entfalten kann, ist gar nicht erst zu denken: Die Scheidungsraten auf der Insel sind enorm, denn zwangsläufig leben unter ein und demselben Dach jahrzehntelang Großeltern, Eltern und Kinder zusammen. Jeder bringt seinen Partner und seinen Nachwuchs mit und quetscht sich mit ihnen in einen Raum, oder man schläft gleich im Wohnzimmer.

Fragen ohne Antworten

Aber wie kann man akzeptieren, dass die Zukunft darin besteht, auf den Tod der Großeltern oder Eltern zu warten, um eine Wohnung zu erben? Oder parasitär vom Wohlwollen derer zu leben, die hier längst ihre Zelte abgebrochen haben und Dollars schicken? Wie soll man sich damit abfinden, dass der Urlaub auf einen Tag im Schwimmbad oder am Strand zusammenschrumpft, weil man sich niemals ein Wochenende in einem Hotel im eigenen Land gönnen könnte, geschweige denn eine Reise ins Ausland? Was sagt man seinem Kind, wenn es das teure Spielzeug im Schaufenster sieht oder wenn es auch so ein Tablet haben will wie der Klassenkamerad, dem es der Vater von seinem Auslandseinsatz mitgebracht hat? Auf diese Fragen gibt es einfach keine Antworten.

Gut zu leben, glücklich zu sein, voller Würde den Boden zu bewohnen, der dich zur Welt gebracht hat, dort als Mensch und Teil der Gesellschaft zu triumphieren, die Fruchtbarkeit der Heimat zu mehren, damit andere geboren werden, denen mehr Glück und bessere Chancen beschieden sind – all das sind Rechte, auf die kein Mensch verzichten sollte, niemals. Das geht mir in all meiner pathologischen Einfalt jedes Mal durch den Kopf, wenn Kenia oder irgendein anderer meiner Freunde mir vorschlägt, auch wegzugehen.

Ich glaube nicht, dass ich es bin, die gehen muss. Ich finde das nicht gerecht. Ich gebe mich nicht geschlagen.

María Antonieta Columga Oliveira,27, war bis vor Kurzem Reporterin der Zeitung Adelante in Camagüey.

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