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"Lass dies Buch nicht zurück"

LESEHUNGER Nach dem Krieg lebten frühere KZ-Häftlinge in einem Camp bei Bergen-Belsen und warteten auf ihre Auswanderung. Eine Ausstellung zeigt, welche Bücher ihnen wichtig waren

„Dieses Buch ist ­Dein Eigentum. Lass es nicht hier zurück, im Land der Scheiterhaufen“

Gedichtband aus dem Jahr 1947

Man muss es sich vorstellen: 12.000 frühere KZ-Häftlinge lebten nach dem Krieg in einem Camp bei Bergen-Belsen, in unmittelbarer Nähe zum einstigen Ort der Vernichtung. Sie waren heimatlos, warteten auf die Ausreise – und konnten endlich wieder lesen. Auch Bücher, die man im Camp für sie druckte, etwa den Fotoband „Unsere Verwüstungen in Bildern“ von 1946, der Pogrome und Erschießungen dokumentiert. In einem anderen Band sind Lieder aus Ghettos und Konzentrationslagern festgehalten.

„Man wollte Noten haben, man wollte Bücher haben, es gab einen unglaublichen Bildungshunger“, sagt Georg Ruppelt, Direktor der Leibniz-Bibliothek Hannover. Aus ihrem Bestand stammen die Bände aus DP-Camps, also Lagern für sogenannte Displaced Persons, die derzeit erstmals ausgestellt werden, im Europäischen Zentrum für Jüdische Musik in der Villa Seligmann in Hannover. Schreckensberichte von Überlebenden des Holocaust, religiöse Schriften, Literatur zur Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina, meist in jiddischer oder hebräischer Sprache – oft am Anfang mit einer Erinnerung an ermordete Familienangehörige versehen.

Am besten erhalten ist ein 19-bändiger Talmud, der wichtigste Text des Judentums neben der Bibel, der damals wegen Papiermangels in einer Auflage von nur 1.000 statt wie geplant 3.000 Exemplaren erschien. Ein jiddisch-hebräisches Wörterbuch von 1948 wird gezeigt – damit bereiteten sich viele nur Jiddisch sprechende Kinder und Jugendliche auf ein Leben in Palästina vor.

Meist sind die Schriften wegen des einfachen Papiers in schlechtem Zustand und werden in der Ausstellung hinter Vitrinen präsentiert, ergänzt durch Wandtafeln mit Informationen und Zeichnungen aus KZs. „Die Schriften müssen digitalisiert werden, denn auch nach einer Restaurierung werden sie weiter zerfallen. Und viele Inhalte müssen erst noch übersetzt werden. Dafür suchen wir einen Träger“, sagt Ruppelt.

Auch die Zeitschrift Unzer Sztyme wird in Hannover vorgestellt. Sie erschien zwischen 1945 und 1947 als Mitteilungsorgan des „Zentralkomitees der befreiten Juden in der Britischen Zone“ in Bergen-Belsen. Überlebende des ehemaligen KZs trugen Nachrichten aus dem Norden zusammen: Neues über die Lage der jüdischen Gemeinden, über geschändete jüdische Friedhöfe im Nachkriegsdeutschland und milde Gerichtsurteile gegen Nazi-Täter.

Auch interne Konflikte werden angesprochen. In einzelnen Artikeln wird gefordert, sich von den „Paketjuden“ zu trennen. Damit sind vom Christentum zum Judentum übergetretene Deutsche gemeint, denen unterstellt wird, dass sie nur an der materiellen Versorgung durch Pakete aus Übersee interessiert seien.

Häufig steht die schnelle Auswanderung nach Palästina als wichtigstes Ziel im Mittelpunkt, für das die Verbreitung der hebräischen Sprache die Grundlage sei. Wer an dem in Osteuropa weit verbreiteten Jiddisch festhielt oder in Europa bleiben wollte, galt als Außenseiter. Für die Mehrheit der 200.000 jüdischen Displaced Persons war vor allem ein Verbleib in Deutschland undenkbar. Das sahen viele der rund 15. 000 überlebenden deutschen Juden direkt nach Kriegsende aber nicht so.

Dass heute in Deutschland nur noch wenige Exemplare der DP-Schriften existieren, liegt auch an einer Aufforderung des Schriftstellers Jitzchak Perlow, der seine vor der Auswanderung stehenden Leser in einem 1947 in München gedruckten Gedichtband aufforderte: „Dieses Buch ist Dein Eigentum. Lass es nicht hier zurück, im Land der Scheiterhaufen.“ Joachim Göres

Ausstellung „Nach der Befreiung“: bis 14. Februar in der Villa Seligmann, Hohenzollernstr. 39 in Hannover, vor Veranstaltungen oder nach vorheriger Anmeldung, www.villa-seligmann.de

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