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Krise? Welche Krise?

China Börsenabsturz, Yuan-Abwertung, weniger Wachstum – die Wirtschaftslage scheint düster. Der Schein trügt

Foto: S. Engelhardt
Felix Lee

Seit 2012 China-Korrespondent der taz mit Sitz in Peking. 2011 erschien: „Der Gewinner der Krise. Was der Westen von China lernen kann“, 2014 „Macht und Moderne. Chinas großer Reformer Deng Xiaoping. Eine Biographie“, beide im Rotbuch Verlag.

Klingt alles höchst dramatisch, was sich in den vergangenen Monaten in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt abspielte: Die Aktienkurse stürzten ab. Die chinesische Landeswährung, der Yuan, wurde abgewertet. Die Exporte gingen zurück. Hinzu kamen Schreckensmeldungen über Überkapazitäten und Geisterstädte.

Und die innerhalb kurzer Zeit rasant gestiegenen Schulden: Sie belaufen sich inklusive der Provinzregierungen, Unternehmen und Privathaushalte auf inzwischen mehr als 280 Prozent der Wirtschaftsleistung. „Chinas großer Fall“ titelte der renommierte Economist Ende August. Der Spiegel schloss sich dem Untergangsszenario des angelsächsischen Mediums an und befürchtete, China könnte zum Epizentrum einer neuen Wirtschafts- und Finanzkrise werden. Nur: China steckt in gar keiner Krise – zumindest derzeit nicht.

Experiment der Reformer

Was stimmt: Die Aktienkurse in Schanghai sind binnen weniger Monate um rund 40 Prozent gefallen. Nur ging diesem Absturz ein fast einjähriger Boom voraus, während dessen die Kurse um rund 150 Prozent gestiegen waren. Wer vor einem Jahr eingestiegen ist und jetzt verkauft, hat also immer noch einen satten Gewinn gemacht.

Noch im Frühjahr rief der chinesische Premierminister Li Keqiang seine Bürger zu Aktienkäufen auf. Es war ein Experiment der Reformer innerhalb der chinesischen Führung: Sie sahen im Zuge ihrer Finanzmarktreformen die Zeit reif, die bis dahin recht sparwütigen Chinesen dazu zu bewegen, ihr Geld an den heimischen Aktienmärkten anzulegen. Damit ging die Hoffnung einher, dass Chinas lange Zeit streng regulierte Aktienmärkte komplett den Marktkräften überlassen werden könnten. Die der chinesischen Führung unterstellte Zentralbank öffnete die Geldschleusen, vergab großzügige Kredite und ermunterte die Bürger in Massen dazu, Aktiendepots zu eröffnen.

Der Anreiz wirkte. China befand sich im Börsenfieber. Selbst der im Zusammenhang mit riskanten Bullenmärkten oft beschriebene Taxifahrer spekulierte mit. Das werde schon für neue Wirtschaftsdynamik sorgen. Dieses Experiment ist mit dem Börsencrash in den Sommermonaten kläglich gescheitert.

Doch so wenig dieser Aktienboom den tatsächlichen Zustand der chinesischen Wirtschaft widergespiegelte, so ist nun auch der Absturz nicht gleichbedeutend mit einem Absturz der Gesamtwirtschaft. Der Anteil der chinesischen Bevölkerung, der an der Börse spekuliert, ist mit weit unter 10 Prozent nach wie vor gering. Auch mit massenhaften Privatinsolvenzen ist nicht zu rechnen. Selbst wer mitspekulierte, hatte einer internen Analyse der Europäischen Handelskammer in Peking zufolge im Schnitt gerade einmal rund 13 Prozent seines Vermögens in Aktien angelegt. In den USA sind es 56 Prozent. Und anders als in den USA hängt die Unternehmensfinanzierung in China nicht von der Kursentwicklung an den Aktienmärkten ab.

Chinas wirtschaftlich derzeit größtes Risiko sind die Schulden. Dem McKinsey Global Institute (MGI) zufolge belaufen sie sich inklusive der Privatschulden derzeit auf rund 28 Billionen Dollar und haben sich damit seit 2007 mehr als vervierfacht. Mit 282 Prozent entspricht das fast dem Dreifachen der Wirtschaftsleistung. Und sicherlich ist richtig: Infolge des großen Konjunkturpakets im Zuge der Weltfinanzkrise von 2008 und 2009 hatten es viele Staatsunternehmen und Provinzregierungen mit den Ausgaben übertrieben. Da viele dieser Investitionen sich bislang nicht ausgezahlt haben, sitzen sie nun auf großen Schuldenbergen. Doch was noch nicht ist, kann zumindest bei einigen Infrastrukturprojekten ja noch werden. Bis etwa die Deutsche Bahn mal schwarze Zahlen schrieb, waren auch Jahrzehnte vergangen.

Was hier jedoch wichtig ist zu wissen: China ist nicht im Ausland verschuldet. Ganz im Gegenteil: Das Land verfügt über die größten Währungsreserven der Welt. Die werden zwar nun angeknabbert. Der Devisenschatz bleibt mit über 3,4 Billionen US-Dollar aber groß.

Die Wirtschaft wächst

Von einem wirtschaftlichen Absturz in der Volksrepublik kann keine Rede sein, auch wenn den offiziellen Verlautbarungen derzeit wenig Glauben geschenkt wird. Chinas Führung hatte Ende des vergangenen Jahres ein Wirtschaftswachstum von 7 Prozent vorausgesagt. Exakt mit diesem Wert wird das Wachstum im ersten Halbjahr ­angegeben. Das wirkt wenig glaubwürdig. Doch selbst die größten ­Pessimisten gehen noch von einem Wachstum zwischen 3 und 5 Prozent aus. Das ist zwar deutlich weniger, als die Welt von China in den vergangenen 20 Jahren gewöhnt war. Im weltweiten Vergleich ist dieser Wert aber immer noch beachtlich. Die USA wachsen derzeit um 2,3 Prozent, die Eurozone um 0,3 Prozent. Von einem Totalzusammenbruch ist in Europa keine Rede. Das trifft dann erst recht nicht auf China zu. Auch mit einem langsameren Wachstum wird die Volksrepublik allen Prognosen zufolge bis 2025 die USA den Rang als größte Volkswirtschaft der Welt abnehmen.

Chinas wirtschaftlich derzeit größtes Risiko sind die Schulden

Doch wie wird es nun mit China weitergehen? Die Industrialisierung des Exportweltmeisters wird sich vor allem im ländlichen Raum im chinesischen Binnenland fortsetzen. Die Technologisierung ebenso. Denn dort ist der Nachholbedarf immer noch gigantisch. Für hochspezialisierte Maschinenbauer etwa winken in dieser Region mit immerhin einer weiteren halben Milliarde Einwohner gute Geschäfte.

In den entwickelten Küstenregionen wiederum, wegen der vielen Fabriken bis vor Kurzem auch noch als „Werkbank der Welt“ bezeichnet, wollen immer mehr Chinesen nicht mehr für Niedriglöhne am Fließband stehen oder hinter Nähmaschinen sitzen, sondern drängen in den Dienstleistungssektor. Der weiter steigende Bildungsgrad wird das möglich machen.

Der Plan scheint zumindest bislang aufzugehen: Während die Industrieproduktion im ersten Halbjahr zwar zurückgegangen ist, hat der Dienstleistungssektor im selben Zeitraum um satte 8 Prozent zugelegt. China wird also weiter wachsen. Nur langsamer. Kein Grund deswegen in Hysterie zu verfallen. Felix Lee

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