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Totgesagtelesen länger

Lesefreuden Natürlich steht auch der Berliner Buchhandel vor der digitalen Herausforderung – und er knickt dabei nicht ein. Im Gegenteil: Die Kunden drängt es in die Buchläden. Davon profitieren gerade die kleinen Buchläden im und für den Kiez

Text Nina Apin und Plutonia Plarre Fotos Paul Langrock

Als die Krimibuchhandlung Totsicher im Herbst 2013 die Kisten packte und den Winskiez verließ, war das der taz ein Interview wert. Betreiberin Grit Burkhardt erzählte von steigenden Mieten, die ihre Stammkunden vertreiben würden. Sie erzählte von einer bevorstehenden Luxussanierung im eigenen Haus. Und von der neuen, internationalen Bewohnerschaft in Prenzlauer Berg, die es schick möge und keine Bücher auf Deutsch lese. Es war eine Geschichte von der Verdrängung eines sympathischen kleinen Buchladens, die so manchen wohl aufseufzen ließ: Der Buchladen, eine bedrohte Daseinsform!

Allein: Es stimmt nicht.

Zwar gehen immer wieder inhabergeführte Geschäfte ein. Weil sie schlecht wirtschaften, das Konzept nicht aufgeht, der Standort nicht passt. Auch Buchläden sind unter den Scheiternden. Doch die Buchläden, die etwas zu sagen haben, bleiben. Manchmal halt an einem anderen Ort.

Die Krimibuchhandlung Totsicher hat sich so als Buchhandlung Totsicher in Lichtenberg neu erfunden. „Wir haben uns für ein breites Publikum geöffnet, das wollten wir im Namen zeigen“, sagt Grit Burkhardt. Etwas versteckt im Weitlingkiez kann man in zwei hellen Räumen jetzt neben Krimis auch ausgewählte Belletristik kaufen. Und Kinderbücher – ein Angebot an die neue Kundschaft im Kiez, in dem viele Familien mit Kindern leben. Sie sind auch der Mieten wegen aus dem benachbarten Friedrichshain herübergezogen. Und Totsicher versucht diesmal, rechtzeitig auf die Entwicklung im Kiez zu reagieren.

Ob das klappt? „Die Leute kommen wieder“, sagt Buchhändlerin Burkhardt zufrieden am Telefon. Weil die Laufkundschaft aber nicht allein zum Leben reicht, bietet Totsicher inzwischen online E-Books zum Download an, obwohl den beiden Inhaberinnen das digitale Lesen eher suspekt ist. Aber: E-Books würden eben immer mehr nachgefragt, deshalb gehöre das Angebot einfach dazu. Und irgendwann, kleiner Seufzer, werde man auch einen eigenen Onlineshop betreiben. Vor Ort im Lichtenberger Laden veranstaltet Totsicher außerdem regelmäßige Lesungen mit Krimiautoren, um Suspense-Fans aus sämtlichen Stadtteilen anzusprechen.

Der Buchhandel empfiehlt: Berlinbücher, eins, zwei, drei, vier

Grit Burckhardt von Totsicher sagt: „Trügerische Nähe“von Susanne Kliem (carl‘s books, 2015) „Zwei Berliner Paare wollen sich in Brandenburg den Traum vom beschaulichen Landleben erfüllen. Aber nach und nach zeigt sich, dass jeder von ihnen ein verborgenes Geheimnis hat, das der Idylle im Weg steht. Hintergründige Psychospannung!“

Manuela Cuevas von La Rayuela empfiehlt: Al Otro Lado del Muro“ (Auf der anderen Seite der Mauer), (errata naturae, 2014) „Die DDR und ihre Schriftsteller. Geschichten über die Mauer von Stephan Hermlin, Brigitte Reimann und anderen. Sehr interessant für alle, die Berlin nur aus der Nachwendezeit kennen und ein Gefühl für die DDR bekommen wollen. Verkaufen wir sehr gut.“

Corinna Dettmers von Anagramm meint: „Die Brücke vom goldenen Horn“von Emine Sevgi Özdamar (KiWi, 1998) „Aus vermeintlich naiver Sicht beobachtet die Erzählerin das Berlin der 60er Jahre und kommt dabei zu klugen Ansichten. Gerade der fremde Blick ist dabei interessant. Die Erzählerin pendelt zwischen einer deutsch-türkischen Gedankenwelt. Die Autorin hat das Buch auf Deutsch geschrieben, aber anhand der Sprachbilder und Rhythmen wird deutlich, dass sie eine Orientalin ist. Das ist sehr reizvoll und betont auch das ‚Dazwischen‘ der Erzählfigur.“

Britta Beecken von der Buchkantine schlägt vor: „Bodentiefe Fenster“von Anke Stelling (Verbrecher Verlag, 2015) „Ich bin auf das Buch zunächst wegen des Titels gestoßen. Ich verabscheue nämlich bodentiefe Fenster – ein Architekturtrend, der dem menschlichen Wunsch nach Intimität völlig zuwiderläuft. Nach der Lektüre war ich begeistert von dem messerscharfen Ton, der genauen Darstellung eines Scheiterns von Familie. Ein tolles und schlaues Buch.“

Gleichfalls umgezogen ist die spanischsprachige Buchhandlung La Rayuela. 2013 kapitulierte Inhaberin Margarita Ruby vor der Gentrifizierung – und zog aus der Elisabethkirchstraße in Mitte nach Kreuzberg. Dort am Südstern teilt sich die Buchhandlung, die Werke spanischsprachiger Autoren ebenso im Programm hat wie ins Spanische übersetzte Klassiker der deutschen Literatur, ein Ladenlokal mit einem Café und einer Sprachschule.

Die perfekte Symbiose, wie die Buchhändlerin Manuela Cuevas schwärmt. Gerade hat sie Mittagspause gemacht und einen Bohneneintopf gegessen, jetzt macht sie sich einen Kaffee und bespricht mit der Inhaberin der Sprachschule das nächste gemeinsame Vorhaben. „Wir teilen uns die Miete und profitieren vom jeweils anderen“, sagt Cuevas. Die Sprachschule nutzt das Café für den wöchentlichen Spanischstammtisch, das Unterrichtsmaterial bestellt sie natürlich bei der Buchhandlung. Diese wiederum nutzt das Café für Buchpräsentationen und Lesungen. Und das auf ziemlich engem Raum.

Mit cleanem Schick ist bei La Rayuela nichts. Café und Laden sind etwas rumpelig, die Bücher quellen geradezu aus den Regalen, es riecht nach selbstgemachtem Essen. Fast wie zu Hause. Und das ist genau die Idee: „Wir sind hier ein soziales Zentrum. Treffpunkt für einen Freundeskreis, der den deutsch-spanischen oder lateinamerikanischen Dialog pflegt“, sagt Cuevas. Und Kreuzberg sei dafür der perfekte Ort: zentral, multikulturelle Atmosphäre, mit viel spanischsprachiger Bevölkerung. „In Kreuzberg gibt es viele Agenturen und IT-Unternehmen, in denen Spanier arbeiten“, sagt die Cuevas, einzige Angestellte des kleinen Buchladens, der dieses Jahr das zehnjährige Bestehen feiert. Und online? Finden sich zweisprachige Kurzrezensionen neu erschienener Bücher, ein Porträt der Inhaberin – aber kein Webshop. Lohnt sich nicht, meint man bei La Rayuela. Wer geht schon ins Internet, wenn er beim Bücherkauf auf Freunde treffen kann?

Intensive Beratung

Nähe, persönliches Gespräch, intensive Beratung – sind Kunden nicht genau davor mal ins Internet geflohen? Zu Amazon, wo man anonym auch abseitigen Vorlieben nachgehen kann? Oder stöbern, ohne zu kaufen – ohne sich dabei von einer ausgebildeten Buchhändlerin ertappt fühlen zu müssen?

Die Kunden kommen wieder zurück, sagt Detlef Bluhm vom Berliner Börsenverein des Buchhandels

„Die Kunden kommen wieder zurück“, widerspricht Detlef Bluhm vom Berliner Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Er sieht einen Mentalitätswandel: Die Faszination des Internets mit seiner ständigen Verfügbarkeit von allem habe nachgelassen. Ernüchtert kehrten die Buchkäufer zurück in die Läden, um wieder ein richtiges Einkaufserlebnis zu haben.

Aber können sie dieses Erlebnis nicht auch in den großen Buchkaufhäusern haben? Wo die ganze Bandbreite der Neuerscheinungen zu haben ist – dazu noch publikumsfreundlich aufbereitet nach Bestsellern und Themenschwerpunkten, daneben eine Leseecke und ein paar „Non-Book“-Mitbringsel zum Stöbern?

Für die Großen der Branche läuft es aber offenbar nicht gut in Berlin. Hugendubel und Thalia schließen seit Jahren Läden. Einzig das Kulturkaufhaus Dussmann macht ein gutes Geschäft. Warum? Weil dort einfach alles stimmt: Die exponierte Lage an der Friedrichstraße, das breite Kulturkonzept, das neben Büchern auch Tonträger, Filme, Noten und eine Papeterie einschließt. Und nicht zuletzt die gute Beratung: Bei Dussmann arbeiten keine Verkäufer, sondern Buchberater, die selbst gerne lesen. Und darum auch fundiert beraten können.

Begeisterung fürs Buch

Da ist sie wieder, die Begeisterung. Sie ist nicht die einzige, dafür aber doch eine ganz wesentliche Grundvoraussetzung für den Erfolg im Buchgeschäft. Wer eine Haltung hat zum Buch und eine Ahnung, von dem kauft man eben lieber einen Roman als von einer Verkaufskraft, die genauso gut Schuhe oder Schrauben verkaufen könnte.

Im Idealfall ist die Buchhandlung ein Ort, an dem man mit Gleichgesinnten eintreten kann in einen Dialog über Literatur – und dabei auch noch etwas lernt.

So ein Ort ist die Buchhandlung Anagramm für ihre Stammkunden – seit 20 Jahren. Deswegen klebt an der Schaufensterscheibe eine große rote 20. Dahinter, in der Auslage, Bücher zum Thema Krieg, Flucht und Vertreibung. „Über das Meer“ heißt ein soeben von Suhrkamp herausgebrachter Reportageband über die Flucht von Syrern nach Europa. Auf einem Kinderbuch ist ein weißer Junge abgebildet. Er zieht seinen Vater am Arm zu einem Mann, der ein kleines Mädchen an der Hand hält. Die beiden, wohl Vater und Tochter, sind schwarz. „Wie ich Papa die Angst vor dem Fremden nahm“, lautet der Titel. Es gehört zum Konzept von Anagramm, die Schaufenster an aktuellen Geschehnissen orientiert zu dekorieren.

Seit 1995 befindet sich der Laden am Mehringdamm in Kreuzberg. Im September wurde das zwanzigjährige Jubiläum groß gefeiert. Genau genommen gibt es das Geschäft viel länger. Die Geschichte geht auf die Kinderladenbewegung und eine Gruppe von Frauen zurück, die in den siebziger Jahren in Kreuzberg den ersten Kinderbuchladen gegründet hatten.

Petra Lange vom Buchladen Anagramm Es macht Spaß, für die Kunden das individuelle Buch zu finden

Vom Kollektivgedanken hat man sich bei Anagramm längst verabschiedet. Es gibt drei Geschäftsführerinnen und Angestellte. Es gibt einen Webshop, und neben den Stammkunden kommt bei Anagramm auch Laufkundschaft ins Geschäft. Darunter, dank der Lage, viele Touristen. Trotzdem: Ausruhen ist nicht. „Es ist eine ständige Herausforderung, im Buchhandel zu bestehen“, sagt Geschäftsführerin Petra Lange. Das Internet und Amazon seien nun mal große Konkurrenten. Andererseits gebe es gerade in Berlin ständig Neueröffnungen. „Jeder versucht, Nischen zu finden.“

Neben der Belletristik-Abteilung ist Kinder- und Jugendliteratur nach wie vor die Stärke von Anagramm. Mit einem Sortiment, das nicht nur Klassiker und Mainstream im Angebot hat. „Wir lesen selbst viel und haben Verlage, die nicht jeder Buchladen anbietet“, sagt Lange. Und: „Es macht Spaß, für die Kunden das individuelle Buch zu finden.“

Von den 140 Quadratmetern Ladenfläche sind ein gutes Drittel für die junge Leserschaft reserviert. Auf Wunsch gibt es für Schulklassen und Kitagruppen Einführungen in die Welt der Bücher. Mit der Schöneberger Kant-Oberschule veranstaltet Anagramm einmal im Jahr eine Art „Literarisches Quartett“. Schüler, ein Deutschlehrer und eine Buchhändlerin diskutieren in der Aula vor Publikum über eine Neuerscheinung. Vor ein paar Tagen hat Anagramm auch einen Spendenaufruf für Flüchtlingskinder in Berliner Unterkünften gestartet: Gut erhaltene Bilderbücher mögen bitte im Laden abgegeben werden.

Kuratierter Handel

Das leidenschaftsgetriebene Konzept des „kuratierten Buchhandels“, wie es Detlef Bluhm vom Berliner Börsenverein des Deutschen Buchhandels ausdrückte, wird vielleicht idealtypisch vom Ocelot in der Brunnenstraße vertreten: Man wollte eigentlich nur kurz ein Kinderbuch als Geschenk kaufen – und diskutiert dann über gute Kindergeschichten und billigen Abenteuerkitsch. Dann wollte man noch einen dieser herrlichen Kuchen essen – und entdeckte beim Blättern ein neues Reportagemagazin.

Und trotzdem musste Ocelot, erst 2012 als innovativer Hoffnungsträger der Branche gestartet, Ende des vergangenen Jahres Insolvenz anmelden. Seit einigen Monaten aber ist das online wie offline schick designte Projekt wieder zurück. Mit einem Blog, Lesungen und demselben Laden. Nur am Businesskonzept wurde nachgebessert. Der Rest stimmte ja.

Handelsplatz Buchmesse

Das Epizentrum des Buchhandels findet sich ab Mittwoch, 14. Oktober, wieder in Frankfurt mit der dortigen Buchmesse: die größte der Welt mit etwa 7.300 Ausstellern aus 100 Ländern. Die ersten drei Tage gehören den Fachbesuchern, Samstag und Sonntag ist für alle geöffnet.

Deutlich kleiner, mit etwa 150 Verlagen, präsentiert sich eine Buchmesse in Berlin: am 28. und 29. November lädt man zur 2. Buch Berlin ins Logenhaus in der Emser Straße 12–13.

Klein, fein, erlesen – geht das nicht auch ein bisschen größer? Das fragten sich die Inhaber der Moabiter Kiezbuchhandlung Buchkantine. Suppe essen, nach Büchern stöbern, sonntags den „Tatort“ gucken – das Angebot kam bei den Moabitern so gut an, dass man sich 2011 den Sprung raus aus den kleineren Räumlichkeiten und ein paar Ecken weiter hin zur Spree zutraute: In einem großzügigen Laden mit ebenso großzügiger Terrasse zum Fluss eröffnete die Buchkantine neu.

Sich und ihrem Kiez blieb sie allerdings treu. Seither kennt die Expansion kaum Grenzen: Das Gastroangebot wird ständig erweitert, dem literarischen Vollsortiment wurde eine umfängliche Internetpräsenz hinzugefügt. Einen eigenen Kinderspielraum gibt es jetzt, der „Tatort“ läuft selbstverständlich in HD. Seit Kurzem vertreibt die Buchkantine sogar eine eigene Weinmarke. Mittlerweile sind zehn Festangestellte und einige Aushilfen in der Dortmunder Straße beschäftigt.

Umziehen, vergrößern, spezialisieren: der Wege zurück zum Kunden sind viele. Nur der Weg am Kunden vorbei führt ganz sicher zum Tod.

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