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Zuversicht ist ein Holunderbonbon

Kanzlerkurs Angela Merkel tritt im Fernsehen als humane Überzeugungstäterin auf – und damit ihrer Parteibasis auf die Füße. Vor allem die CSU spritzt Gift, die Opposition bemängelt das fehlende Konzept

Zwei Flüchtlingskinder in Berlin warten auf einen Schlafplatz Foto: Kay Nietfeld/dpa

von Anja Maier

Fast hätte die Autorin dieses Textes den Beginn der Supermerkel-Krisentalkshow am Mittwochabend verpasst. Auf ihrem abendlichen Heimweg nämlich hatte sie in der Berliner S-Bahn eine Gruppe Flüchtlinge getroffen: drei Erwachsene, die mit sauber bestempelten Papieren, Rucksäcken, Tüten und ihren sechs Kindern durch Berlin geirrt waren. Zu später Stunde stapfte also die Autorin mit der kleinen Karawane durch den Brandenburger Regen, um sie schließlich in einer ehemaligen Kaserne einem zweifellos netten, aber völlig überforderten Sicherheitsmann zu übergeben.

Der sprach zwar kein Wort Englisch, war sich aber ganz sicher, dass mit diesen sechs erschöpften Kindern, der hochschwangeren Frau und den beiden bartschattigen Männern gerade ein Riesenproblem vor ihm aufgetaucht war. „Die kommen alle in die Turnhalle, sagen Sie denen das!“ Und dass er gerade gar nicht wisse, ob überhaupt noch Bettwäsche vorrätig sei.

Es dauerte deshalb also alles ein bisschen länger, bis die Autorin hin und her übersetzt hatte und bis in den offiziellen Überstellungslisten die Namen der Neuankömmlinge aufgespürt waren. Es dauerte auch, bis die Autorin für die übermüdeten Kinder ein paar Holunderbonbons aus der Tasche gekramt und bis sie dem Sicherheitsmann das feste Versprechen abgenommen hatte, diese Leute auf keinen Fall wieder wegzuschicken. Ansonsten: hier ihre Telefonnummer.

Sie schaffen das doch, oder? „Klar, ich schick doch die ­kleenen Dinger nicht in die Nacht.“

Um Punkt Viertel vor zehn also sank die Autorin in ihren Fernsehsessel, auf den Knien ihren Laptop, neben sich ein Glas Wein, in sich ein ganz maues Gefühl. Das Thema, zu dem sich die Kanzlerin bei „Anne Will“ jetzt gleich äußern würde, die Frage der Aufnahme von Hunderttausenden Flüchtlingen – ist dieses Problem überhaupt zu bewältigen? Und falls ja – wie geht es dann weiter für diese Menschen in einem Land, in dem ein CSU-Ministerpräsident mit „Notwehr“ droht, weil die Regierungschefin in Berlin es nicht schafft, die Menschen von ihrer Reise nach Deutschland abzuhalten?

Die neun Menschen, die jetzt gerade hoffentlich ihre Bettdecken bezogen, hatten wenigstens ein festes Dach über dem Kopf gefunden. Aber war das menschenwürdig? Für eine Schwangere? Für kleine Kinder, die Platz und Licht brauchen? In einem Land, in dem Eltern Bio­breichen kaufen und deren Kinder in ökologisch sanierte Kitas gehen?

„Die Menschen sollen wissen, wer ihre Kanzlerin ist“

Angela Merkel im TV bei „Anne Will“

Die Autorin dachte an die teuren fußergonomischen Winterstiefel, die sie gerade für ihre Enkelin gekauft hatte. Und an das dreijährige Mädchen, das sie vor einer halben Stunde eine nächtliche Ausfallstraße hinuntergeführt hatte. Hand in Hand. Das Mädchen hatte sie von unten mit diesem Gleich-sind-wir-da-Blick angeschaut. Und dieses Da – das war eine Turnhalle gewesen. Mehr Gerechtigkeit, mehr Würde – ist so was in dieser Situation überhaupt zu schaffen?

Angela Merkel war da deutlich optimistischer. „Wir schaffen das. Da bin ich ganz fest von überzeugt“, sagte die Kanzlerin. Es werde sicher keine rasche Lösung der Flüchtlingsfrage geben. Und zurückdrehen könne man die Entwicklung ohnehin nicht. Ja, das Land stehe vor seiner vermutlich größten Herausforderung seit der Wiedervereinigung. „Aber jetzt ist die Situation da. Und meine Aufgabe ist es, aus dieser Situation wieder eine zu machen, die geordneter ist.“

Auf die Frage danach, wie sie das ihren KritikerInnen gegenüber in der eigenen Partei und unter den WählerInnen erkläre, erwiderte Merkel: „Stellen Sie sich vor, wir sagen, wir schaffen das nicht. Und dann? Optimismus und innere Gewissheit – so gehe ich da ran.“

Man spürte: Das meinte sie tatsächlich alles so. Angela Merkel kommt nicht umsonst aus einem Pfarrhaus. Ihre Sätze hatten zweifellos etwas Bekenntnishaftes. Macht mit mir, was ihr wollt – ich kann nicht anders.

So ermutigend es ist, dieser Regierungschefin dabei zuzusehen, wie sie vor einem Millionenpublikum zu ihren humanistischen, ihren christlichen Überzeugungen steht – so irritierend ist das auch. Noch nie, das spürte man, war die Kanzlerin so weit entfernt von ihrer Partei. Von deren zwar christlichen, gleichwohl im nun eingetretenen Bewährungsfall kühl besitzstandswahrenden Grundsätzen: Hilfe gern, aber nur solange sich nichts an unserem Leben ändert.

Schweigt nicht mehr: Kanzlerin Merkel Foto: Michael Kappeler/dpa

Aber genau das kann Angela Merkel nicht mehr versprechen. Sie versucht stattdessen etwas Neues: Sie erklärt ihre Politik. Doch ausgerechnet diese neue Gangart könnte zu Entfremdung und zum endgültigen Bruch führen. Man kennt das. Nachdem der SPD-Kanzler Gerhard Schröder 2003 mit der Agenda 2010 Maßnahmen fernab vom sozialdemokratischen Selbstverständnis verkündet hatte, kündigte ihm seine Partei die Gefolgschaft. Zwei Jahre später war Angela Merkel Regierungschefin.

Das Risiko, das Merkel mit ihrer sehr geraden Haltung in der Flüchtlingsfrage eingeht, ist also riesig. Als Anne Will die Bundeskanzlerin fragt, ob sie ihre Kanzlerschaft mit der Flüchtlingsfrage verknüpfe, antwortete sie: „Ich werbe für meinen Weg.“ Und dass sie bereit sei, für die Lösung des Flüchtlingsproblems zu kämpfen, „wie ich es nur kann“. Flüchtlinge, jeder Einzelne von ihnen, seien für sie „Menschen, die ihre Heimat bestimmt nicht leichtfertig verlassen haben“. Und auf Wills anspielungsreiche Frage, ob dies hier gerade ihr „Agenda-Moment“ sei, antwortet Merkel: „Die Menschen sollen wissen, wer ihre Kanzlerin ist.“

Das wissen seit diesem Mittwochabend nun also tatsächlich alle. Gerade in der Union wird man Merkel aufmerksam zugehört haben. In Bayern zündet CSU-Chef Horst Seehofer täglich eine neue Eskalationsstufe, was ihm nebenbei bemerkt Pluspunkte bei den Wählerumfragen einträgt. Und auch in der CDU gärt es. Am Mittwoch hatte ein offener Brief von 34 CDU-PolitikerInnen die Runde gemacht, in dem beklagt wurde, dass man sich von der CDU-geführten Bundesregierung nicht mehr vertreten fühle. Während Merkels Interview am Mittwoch­abend verbreitete die Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach den Brief auf Twitter. Steinbachs Kommentar: „Ein Ruf der Verzweiflung!“

Tags darauf blieben Merkels CDU-Kritiker auffallend still. Stattdessen gab es Lob von ungewohnter Seite. Linke und Grüne, die Opposition im Bundestag, begrüßten Merkels Standhaftigkeit in der Flüchtlingsfrage. Gleichwohl bemängelten sie das Fehlen eines klaren Konzepts. Die CSU kündigte derweil neue Maßnahmen zur Begrenzung der Zuwanderung an.

Eine Ergebenheitsadresse erreichte die Chefin aus dem Parlament. Die Unionsfraktion stehe „geschlossen hinter der Bundeskanzlerin“, erklärte am Donnerstag Vizefraktionschef ­Thomas Strobl, der ein wichtiges Gesicht der Baden-Württemberger CDU ist. Dort wie auch in ­Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen finden 2016 Landtagswahlen statt. Schwenken diese Landesverbände auf Merkels „Wir schaffen das“-Kurs, würde eine Menge Druck aus dem Kessel genommen. Von der rheinland-pfälzischen Spitzenkandidatin war gleichwohl ein nur mitteleuphorisches „Sehr souveräne Kanzlerin, macht sie gut und überzeugend bei Frau Will“ zu vernehmen.

Sie schaffen das doch, oder? „Klar, ich schick doch die kleenen Dinger nicht in die Nacht“

Prominente Unterstützung erfährt die Kanzlerin von ihren Leuten aus der ersten Reihe. Ob Kanzleramtschef Peter Altmaier, Generalsekretär Peter Tauber oder der sonst eher mit Lob ­sparende Finanzminister Wolfgang Schäuble; ob Fraktionschef Volker Kauder oder Parlamentspräsident Norbert Lammert, ob der Hesse Volker Bouffier oder NRW-CDU-Chef Armin Laschet – ihre Spitzenparteifreunde stehen dicht hinter Merkel. In zahllosen Interviews propagieren sie die Linie ihrer Kanzlerin.

Die Frage bleibt aber, wie das nach den Landtagswahlen im Frühjahr 2016 aussehen könnte. Hat sich bis dahin an den derzeitigen Zuständen in der Flüchtlingshilfe wenig geändert, wird das Merkels CDU in Rechnung gestellt. Die Länder würden rebellieren. Ist bis dahin wieder die jahrzehntelange Ruhe im Lande eingekehrt, wird Angela Merkel zur Säulenheiligen ihrer Partei. Ausgekegelt ist dies noch nicht.

Fest steht im Moment lediglich, dass am Morgen nach der Supermerkel-Krisentalkshow sechs Kinder in einer Brandenburger Sporthalle aufgewacht sind. Mehr ist für sie gerade nicht drin. Aber es ist: ein Anfang.

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