Ausstellung: Rückzug zum echten Material

„Viermal Neues auf Papier“: Die Radierungen von Kerstin Grothe im Sprengel Museum zeigen seltsam kaputte Landschaften.

Düstere Schemen: Landschaften von Kerstin Grothe Foto: Kerstin Grothe/VG Bild-KunstBonn

HANNOVER taz | „Viermal neues auf Papier“ ist zugegebenermaßen ein ziemlich öder Titel für eine Ausstellung. Aber wie könnte man eine Ausstellung besser nennen, in der man einfach nur vier Werke einigermaßen junge Künstlerinnen und Künstler vorstellen möchte, die sich nun einmal vor allem für die Arbeit auf Papier begeistern? Und sind Papierarbeiten nicht insgesamt ein schwer zu vermittelndes und sprödes Format?

Damit gemeint sind Zeichnungen, Drucke und Collagen. Das Sprengel Museum verfügt über eine beachtliche Sammlung. Erst vor Kurzem ist ein großes Konvolut von Zeichnungen aus der DDR angekauft worden. Es gibt hier sogar eine eigene Kuratorin für Papierarbeiten, die auch die Sammlung betreut. Karin Orchard heißt sie.

Ein gemeinsames Thema haben die Arbeiten in der Ausstellung mit dem öden Namen immerhin: In den Werken der ausstellenden Künstlerinnen und Künstler Benjamin Badock, Frauke Dannert, Kristin Grothe sowie Pia Linz geht es im weiteren Sinne um Architektur. Die vier sind in den 1960er- und 1970er-Jahren in Deutschland geboren. Ganz jung sind sie nicht mehr. Hier führt der Titel ein wenig in die Irre. Und innovativ sind einige der Werke auch nicht. Dazu später mehr.

Immerhin ist das meiste wirklich aus Papier. Und apropos Architektur: Einen Anlass hat die Auswahl von Künstlern und Werken schon. Vor wenigen Wochen wurde der Erweiterungsbau des Museums eröffnet.

Ihre Landschaften sind Ergebnisse der Einwirkungen von Gewalt. Man könnte an Vertreibungen denken

Bauwerke also. Der 1974 in Karl-Marx-Stadt geborene Benjamin Badock ist gleichermaßen studierter Künstler wie Architekt. Auch wenn die SPD in Westdeutschland eine ähnliche Affinität zum Plattenbau hatte, wie die SED im Osten, verbindet man diese Art sozialen Wohnungsbaus doch eher mit Magdeburg als mit Stuttgart. Badock beschäftigt sich in den ausgestellten Arbeiten mit der Platte, technisch wie motivisch.

Auf Badocks Drucken von 2008 sind Plattenbauten zu sehen. Er fertigt sie auf dem Papier im Holzschnittverfahren. Man könnte sagen, sie werden aus fertigen Bauteilen montiert. Obwohl es Drucke sind, handelt es sich um Unikate, Farben und Bauteile variieren. Einige der gedruckten Gebäude sind gekachelt, manche stehen auf Stelzen, eines hat eine Kuppel wie ein Atomkraftwerk. Die Blätter erinnern mit ihrer flächig aufgetragenen knalligen Farbe und in der Serialität stark an Werke der Pop-Art der 1970er-Jahre.

Wesentlich komplexer sind die Arbeiten der 1964 im Taunus geborenen Pia Linz. Sie beschäftigt sich vornehmlich mit ihrer eigenen Umgebung, den Straßen und Vierteln ihrer Stadt. Heute lebt sie in Berlin. Zunächst vermisst sie die Länge einer Straße oder eines Platzes etwa. Sie zählt die Häuser und Bäume, nimmt ihre Schritte – Schuhgröße 39 – als Maß. Mit Bleistift notiert sie die Dinge und Ereignisse des öffentlichen Raums. Später trägt sie ihre einzelnen Skizzen zu großformatigen Karten zusammen. Es entstehen so riesige Panoramen.

Eine Besonderheit ihrer Zeichnungen ist die Detailliertheit und Mehrperspektivität der Landschaften. Sie zeichnet jeden Abschnitt von ihrem jeweiligen Standpunkt aus. Das bedeutet etwa, dass sich vor jedem Baum und jedem Haus Stamm und Krone, Fassade und Dach nach oben hin verjüngen. Auch Beschreibungen der Geschehnisse um sie herum fließen in die Karten ein.

Auf eine eher altmodische Art und Weise komplex sind wiederum die Collagen der 1979 in Herdecke geborenen Frauke Dannert. Sie verwendet Fotokopien unterschiedlicher Versatzstücke von Architektur, die sie in Büchern und Zeitschriften findet. Ein modernistischer Zug, diese Rückkehr zum „echten“ Material. Mit solcher Art Träumen von DaDa und Surrealismus sind diese Ansätze verwandt.

Und tatsächlich erinnern ihre collagierten Architekturen an die perspektivisch unmöglichen Bauten von M.C. Escher. Die schrägen Perspektiven lassen zudem an das Neue Sehen der späten 1920er-Jahre denken. Mit Tageslichtprojektoren wirft sie weitere Architekturcollagen an die Wände. Durch Licht und Schatten werden sie räumlich. Schere und Klebstoff sind ähnlich den Tageslichtprojektoren nostalgische Werkzeuge.

Allerdings korrespondieren die projizierten Umrisse mit der Architektur der Ausstellungsräume. In den flexiblen Wänden, der Beleuchtungsanlage und dem Brandschutzteppich kommen unverkennbar die 70er Jahre zum Vorschein. Wenn der Umbau vollständig abgeschlossen ist, werden diese baulichen Zeitzeugen verschwinden.

Radierung ist nun auch nicht gerade ein neuartiges künstlerisches Mittel. Die Art und Weise aber, in der sich die 1972 in Hamburg geborene Kerstin Grothe dieser Technik bedient, ist ungemein interessant und radikal. Gerade auch in Bezug auf das Motiv der Architektur. Kurz gesagt, trägt sie als Drucke schwarze Farbe auf festes Büttenpapier auf und radiert dann Teile davon mit scharfen Klingen und Schleifpapier wieder aus. Es entstehen so neue seltsame, kaputte Landschaften mit unbefahrenen Schienen und Brachen. Ihre Landschaften sind Ergebnisse der Einwirkungen von Gewalt. Man könnte an Vertreibungen denken, an Sprengungen oder Erdbeben. Solcherart Gewalteinwirkungen schaffen dann vielleicht tatsächlich etwas Neues. Auf Papier.

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