THOMAS RUTTIG ÜBER DEN FALL VON KUNDUS: Taliban stoppen – um jeden Preis?
Der zweite Angriff der Taliban auf den ehemaligen Bundeswehrstandort Kundus in diesem Jahr zeigt zwei Dinge: Zum einen, dass die Taliban kaum geschwächt sind – auch nicht durch ihren intern zeitweise umstrittenen Führungswechsel nach dem Tod von Mulla Mohammed Omar hin zu seinem bisherigen Stellvertreter Mullah Achtar Mohammed Mansur.
Ihre militärischen Strukturen sind intakt und sie nutzen taktisch clever die Schwächen der überdehnten afghanischen Regierungstruppen. Sie setzen auf tausend Nadelstiche und hoffen, dass die Regierungstruppen irgendwann auseinanderfallen.
Die Regierung hingegen wird einiges daransetzen, mit Kundus nicht das erste urbane Zentrum zu verlieren. Die Frage ist, ob das „Koste es, was es wolle“ geschehen wird. Massive Luftangriffe etwa wären fatal für die afghanische Zivilbevölkerung.
Zum anderen legt das Taliban-Vorrücken beredtes Zeugnis davon ab, wie viel der militärische Teil des deutschen Einsatzes in der Provinz Kundus bewirkt hat – nämlich sehr wenig.
Seit etwa 2006 haben die Taliban unter der Nase der deutschen Militäraufklärer und des BND schrittweise ihre Strukturen aufgebaut. Währenddessen behauptete die Bundesregierung noch, dass sie überhaupt nicht in einen Krieg involviert sei – also dass Kundus praktisch eine Insel darstelle.
Daraus sollten jene Schlussfolgerungen ziehen, die gerade über die künftige deutsche Sicherheitspolitik beratschlagen – Stichwort neues Weißbuch der Bundesregierung. Der Fall Kundus zeigt, dass es nicht um mehr Militär und „Fähigkeiten“ (sprich: Transportflugzeuge et cetera) geht, sondern um rechtzeitige, von Regierungspolitik unabhängige Bewertung von Situationen.
Noch einmal innehalten sollten aber auch jene, die viele afghanische Bürgerkriegsflüchtlinge – laut UN zurzeit die zweitgrößte in Europa eintreffende Gruppe – zu Wirtschaftsmigranten umetikettieren wollen.
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