: Die schwierige Ankunft im Alltag
Willkommensklassen 5.000 Kinder, das Gros von ihnen Flüchtlingskinder, lernen derzeit Deutsch in speziell für sie eingerichtete Klassen in dieser Stadt. Wie geht es ihnen dort? Und wie kommen die Lehrer klar?
von Anna Klöpper
„Ich packe meinen Koffer“, singen die Kinder. „Ich packe meinen Koffer und ich nehme mit: eine Sonnenbrille, einen Bikini und einen Reisepass.“
Ein Donnerstagmorgen im Spätsommer, in der Schule Am Breiten Luch in Lichtenberg hat es zur zweiten Stunde geklingelt. Durch die Fenster mogelt sich ein Sonnenstrahl ins Klassenzimmer, an den Plattenbauten hinter dem Schulhof vorbei, auf Halas Tisch. Die Neunjährige aus Syrien, dunkle Augen im schmalen Gesicht, schicke Spange im schwarzen Haar, hat tatsächlich erst kürzlich ihre Sachen gepackt. So wie ihre KlassenkameradInnen: Muhammad aus Syrien, Mersina aus Serbien, Marc aus der Ukraine.
In den Urlaub ist aber niemand von ihnen gefahren. Sie sind geflohen – vor Terror in Syrien, Verfolgung in Serbien, Krieg in der Ukraine. Nun sitzen sie in der Willkommensklasse der Schule Am Breiten Luch, einer sonderpädagogischen Förderschule mit angeschlossener Grundschule für Willkommensklassen, und singen ausgerechnet das Kofferlied.
Normalerweise geht es so: Neue Asylbewerber werden vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) registriert und einer Erstaufnahmeeinrichtung zugewiesen. Die dortigen Sozialarbeiter melden die Kinder beim Schulamt an. Diese meldet die neuen Kinder dem Gesundheitsamt, das die schulärztliche Untersuchung vornehmen muss, bevor Kinder in die Schule gehen dürfen. Für Asylbewerber ist zudem eine Röntgenuntersuchung wegen Tuberkulosegefahr obligatorisch. Liegen alle Untersuchungen vor, gibt die zuständige Schule im Heim Bescheid, dass das Kind kommen darf.
Warum es dauern kann mit der Einschulung: Die erste Meldung beim Schulamt erfolgt nicht immer sofort nach Einzug ins Heim, weil Sozialarbeiter wegen der steigenden Flüchtlingszahlen und teils nicht besetzter Stellen überlastet sind. Hinzu kommt, dass das Lageso oft Wochen braucht, um die Flüchtlinge zu registrieren – ohne Registrierung aber gibt es weder Geld noch Asylantrag noch Schulplatz. Fehlendes Personal in den Gesundheitsämtern ist nach Angaben des Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migranten (BBZ) ein weiterer Grund, warum sich die Einschulung verzögern kann – um bis zu drei Monate. Einen Fortschritt gibt es aber: Die Wartezeiten auf die TBC-Untersuchung haben sich seit Anschaffung eines Röntgenmobils im Juli auf einige Tage reduziert. (sum)
Rund 5.000 SchülerInnen, das Gros von ihnen Flüchtlingskinder, lernen derzeit Deutsch in sogenannten Willkommensklassen. Die Zahl dieser Klassen, die eigentlich „Lerngruppen für Neuzugänge ohne Deutschkenntnisse“ heißen, hat sich innerhalb eines Jahres nahezu verdoppelt: 257 waren es im Herbst 2014. Aktuell sind es laut Senatsbildungsverwaltung 478 Klassen an Grund- und Oberschulen. Damit hat jede dritte Berliner Schule inzwischen irgendwo mindestens eine Lerngruppe untergebracht, die die knapp 5.000 „Neuzugänge“ im Berliner Schulsystem, bestenfalls innerhalb eines Schuljahrs, auf den regulären Unterricht vorbereiten soll (siehe Bericht Seite 45).
Unweit der Schule Am Breiten Luch liegen die Flüchtlingsheime in der Rhinstraße und der Werneuchener Straße, seit einigen Monaten auch das Zuhause von Omar und Muhammad. Stillarbeitsphase im Klassenraum: Die beiden Achtjährigen aus Syrien schieben Buchstabenkärtchen auf ihren Tischen hin und her und flüstern leise auf Arabisch miteinander: Könnte das ein „A“ sein? Und wo ist bloß das passende Bild zum Buchstaben?
Muhammad ist nicht bei der Sache, die ganze Stunde über hält es den schmächtigen Neunjährigen kaum auf seinem Stuhl. Später, in der Pause, erzählt er mühsam von seinem Vater, auf den er und seine Mutter und die beiden Schwestern warten. Ist der Vater noch in Syrien? Der Junge nickt. Für einen Moment hört er auf zu zappeln. „Kommt bald“, sagt er mit Nachdruck.
Die zehnjährige Mersina am Nachbartisch hat das Buchstabenpuzzle in Windeseile gelöst. „Geh und hilf Hala“, sagt Lehrer Schlegel. Hala, vor einem Monat mit ihrer Mutter und zwei Geschwistern aus Syrien angekommen, ist erst seit zwei Tagen in der Lerngruppe und spricht noch kein Wort Deutsch. Ratlos schiebt sie die Kärtchen auf ihrem Tisch hin und her und lächelt verlegen.
Das Leistungsniveau in den Willkommensklassen reicht von Kindern, die in ihren Herkunftsländern noch keine Schule besucht haben, bis zu Kindern wie Mersina, die in Serbien in die 4. Klasse ging. Seit fünf Monaten ist sie in Deutschland. Die Aufgaben, die Lehrer Schlegel der Klasse gibt, scheinen sie eher zu langweilen. Unruhig rutscht sie auf ihrem Stuhl hin und her und reckt den Finger kerzengerade in die Luft, als ihr Lehrer nach den Wochentagen fragt. Mersina zählt sie auf: Montag, Dienstag, Mittwoch, dann die Monatsnahmen, die Jahreszeiten.
Wie wird man als Lehrer diesen unterschiedlichen Lernansprüchen der Kinder gerecht? Wie beschäftigt man gleichzeitig eine Mersina und ein Mädchen wie Hala?
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