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Nervensägen an der Schlachteplatte

GRASWURZELFUSSBALL Darmstadt 98 zermürbt seine Gegner regelrecht mit unkonventionellem Spiel. Diesmal muss Leverkusen dran glauben. Die Werkself verliert zu Hause 0:1 gegen den Aufsteiger

Zauselbart gegen Jungprofi: Marco Sailer kommt vor Leverkusens Jonathan Tah an den Ball Foto: dpa

Aus LEVERKUSEN Daniel Theweleit

Die zähen Darmstädter sind in diesem Spätsommer so etwas wie die Nervensägen der Liga. Auf Schalke haben sie ihren Gegner mit ihrem kunstvoll über fast eine ganze Halbzeit ausgedehnten Zeitspiel in die Verzweiflung getrieben. Nach dem 0:0 gegen 1899 Hoffenheim eine Woche später wurde ihnen vorgeworfen, sich ganz und gar auf die Zerstörung eines schönen Fußballspiels beschränkt zu haben. Und jetzt in Leverkusen bejubelten die Darmstädter Fans erneut Befreiungsschläge, als handle es sich um komplizierte Spielzüge von Weltklassefußballern.

Diesmal mochte sich jedoch kein Gegner beklagten. „Darmstadt ist hier sehr clever aufgetreten“, sagte Roger Schmidt, und der nächste Satz des Leverkusener Trainers dürfte seinen Kollegen, den Darmstädter Coach Dirk Schuster, besonders gefreut haben: „Wir haben uns auf ein Spiel eingelassen, das Darmstadt vielleicht besser kann als wir.“ Eigentlich sind die Leverkusener unter diesem Trainer ja dafür bekannt, über imposante Energieleistungen, viele gewonnene Zweikämpfe und eine große Willenskraft Siege zu erzwingen. Dass Darmstadt in diesen Spezialkategorien möglicherweise besser sein könnte als die Werkself vom Rhein, ist ein bemerkenswerter Befund. Schmidt jedenfalls stand in der zweiten Hälfte permanent an der Seitenlinie, rief Anweisungen ins Spiel und fuchtelte wild mit den Armen.

Er wollte, dass seine Mannschaft ihre fußballerische Überlegenheit ausspiele, aber genau das scheint unerwartet schwer zu sein gegen diesen widerborstigen Aufsteiger aus Südhessen. Und an den großen Problemen, die die kleinen Darmstädter ihren scheinbar übermächtigen Gegnern bereiten, laben sie sich wie ein ausgehungerter Wanderer an einer zünftigen Schlachteplatte. Marco Sailer erzählte lächelnd, wie viel „Spaß“ er habe, „wenn der Gegner die Nerven verliert und ihm nichts mehr einfällt“; und allen Experten, die glauben, das lasse sich nicht über eine ganze Saison durchhalten, entgegnete Kapitän Aytac Sulu: „Uns wurde schon in der dritten Liga gesagt, dass wir irgendwann zusammenbrechen, in der zweiten Liga auch, aber es ist nie passiert und es wird auch jetzt nicht passieren.“

„Wir wollen uns nicht nur einbetonieren, sondern versuchen, mutig nach vorne zu spielen“

Dirk Schuster, Darmstadts Chefcoach

In den kommenden Wochen wird sich nun zeigen, was passiert, wenn mal ein Gegner in Führung geht, wenn das Darmstädter Team dann also gezwungen ist, die eigene Defensive zu lockern, um ein Tor zu erzielen. Dann könnte es auch mal hohe Niederlagen geben, vielleicht schon am kommenden Samstag, wenn der FC Bayern München am Böllenfalltor zu Gast ist. Aber dieser Nachmittag von Leverkusen lieferte Indizien dafür, dass Darmstadt 98 sogar mit Rückständen klarkommen könnte. „Heute hat man gesehen, dass wir nicht nur als Mannschaft gut verteidigen können, sondern dass wir auch den Arsch in der Hose haben, mal nach vorne zu spielen“, sagte Peter Niemeyer.

Genau das hatte Schuster angeordnet, wobei aus diesen spielerischen Ansätzen in keiner Phase so etwas wie Dominanz entstand. Aber die Leverkusener ließen sich vor allen Dingen in der Anfangsphase immer wieder zu dummen Fouls in der eigenen Spielhälfte verleiten. Nach einem der folgenden Freistöße köpfte Sulu das Tor des Nachmittags (8.) und sicherte sich einen Eintrag in die Geschichtsbücher. „Der erste Sieg für Darmstadt seit 33 Jahren macht uns mächtig stolz“, sagte Trainer Dirk Schuster nach dem ersten Dreier der Lilien in der höchsten deutschen Spielklasse überhaupt.

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