: Monster-Partituren
Musikfest Mahlers „Kindertotenlieder“ wurden eher seelenlos gesungen. Dafür waren die Aufführungen von Arnold Schönbergs „Die Jakobsleiter“ und Karlheinz Stockhausens „Michaels Reise um die Erde“ richtige Coops
von Katharina Granzin
Das jährliche Musikfest ist immer wieder ein wunderbar wirksamer Rahmen, um solchen Werken Aufmerksamkeit zu verschaffen, die im normalen Repertoirebetrieb untergehen würden – weil sie als zu sperrig oder schwer goutierbar gelten oder furchtbar aufwendig in der Produktion sind.
Arnold Schönbergs unvollendetes, sehr selten aufgeführtes Oratorium „Die Jakobsleiter“ ist so ein Fall. Man braucht nicht nur ein Symphonieorchester dafür, sondern auch einen riesigen Chor und zahlreiche Solisten, insgesamt wohl rund 250 Menschen.
Dieses Mal hat sich der Aufwand auf jeden Fall gelohnt für das Deutsche Symphonie-Orchester plus Rundfunkchor unter Ingo Metzmacher, denn die Philharmonie ist am vergangenen Donnerstagabend nicht nur komplett ausverkauft, sondern es stehen sogar noch zahlreiche „Suche Karte“-Kärtchenhalter vor dem Eingang. Das hätte Schönberg sicher gefreut, der ja irrtümlicherweise anzunehmen pflegte, einst würden die Menschen seine Melodien auf der Straße pfeifen. Aber das tut man nach der „Jakobsleiter“ natürlich nicht.
Der Abend beginnt grandios mit Iannis Xenakis’ Stück „Shaar“ für Streichorchester, das inhaltlich insofern weitläufig mit Schönbergs Opus verwandt ist, als es ein altjüdisches, kabbalistisches Sujet vertont, den Kampf eines Gerechten gegen dämonische Kräfte des Bösen. Dieses tonal archaisch anmutende, mystisch geladene Werk geben Metzmacher und die Streicher des DSO hochkonzentriert und spannungsreich zwischen großem Brausen und feinstem Sirren.
Weniger inspiriert, viel zu diesseitig geraten die anschließend aufgeführten „Kindertotenlieder“ von Gustav Mahler, was aber nicht nur am Orchester, sondern vor allem an der Solistin Wiebke Lehmkuhl liegt, deren klangschöne, technisch einwandfrei geführte Altstimme schlicht mit Seele geizt. Schade drum. Mahler war wohl als Schönbergs großes Vorbild und Idol mitprogrammiert worden; aber wie weit der jüngere Kollege auf eigenen Wegen weitergewandelt ist, lässt sich an besagter „Jakobsleiter“, die nach der Pause mit großem Bahnhof zelebriert wird, staunend feststellen.
Freite Atonalität
Schönberg, der als Spätromantiker angefangen hatte, ging, bevor er die Zwölftontechnik entwickelte, durch eine experimentelle Phase überwiegend freier Atonalität. Für die „Jakobsleiter“ verwendet er bereits ein wiederkehrendes Muster von Tonreihen, in diesem Fall Sechstonreihen. Man muss sich Arnold Schönberg wohl als einen sehr ernsthaften Menschen vorstellen, einen, der es nie aufgegeben hat, Gott in der und durch seine Musik zu suchen. Für die „Jakobsleiter“ schrieb er in den Jahren 1915 bis 1917 auch den Text selbst – nachdem er vergeblich nach einem Librettisten gesucht hatte und zwischendurch noch ein halbes Jahr Soldat sein musste.
Der Erzengel Gabriel (gesungen von Thomas E. Bauer) steht im Zentrum des Stücks, als eine Art Moderator des allgemeinen Strebens nach Erlösung von irdischer Mühsal. Weitere Solisten haben kleinere Partien, treten auf als „Mönch“, als „Berufener“, als „Ringender“ in Zwiesprache mit dem Erzengel. Als größter Besetzungscoup des Abends tritt die 76-jährige Edda Moser in der Rolle des „Sterbenden“ auf. Die Sopranistin, die einst als „Königin der Nacht“ legendär wurde, legt eine Expressivität in ihren Sprechpart, mit der sie locker die singenden Kollegen in den Schatten stellt.
Die Individualität des religiösen Strebens setzt sich auch in Chor und Orchester fort, die nicht als homogene Masse auftreten, sondern sich immer wieder in musikalische Grüppchen aufspalten. „Unzufriedene“, „Zweifelnde“ und „Jubelnde“ singen im Chor neben- oder gegeneinander, und vollends überkomplex wird die Lage, als die „Fernensembles“ in Aktion treten.
Nur die besondere Bauweise der Philharmonie mit ihren zahlreichen Rängen und Balkönchen macht diese Form der Aufführung überhaupt möglich. Von hoch oben beteiligen sich fünf um das Saalrund verteilte Instrumental- und Sänger-Ensembles am musikalischen Geschehen.
Ingo Metzmacher, in der Mitte stehend, ist neben dem Erzengel der weitaus wichtigere Moderator des Abends. Mit den lang gehaltenen Tönen einer Sopranstimme von irgendwo hoch oben verklingt Schönbergs Oratorienfragment wirkungsvoll – gleichsam mit einer Frage, auf die es nie eine Antwort gab.
Entspannt wie Engel
Am nächsten Abend tritt der nächste Erzengel, nämlich Michael, in einem ebenso selten aufgeführten Werk in Erscheinung: Im Haus der Berliner Festspiele wird „Michaels Reise um die Erde“ gegeben, der zweite Akt des „Donnerstag“ aus Karlheinz Stockhausens gigantomanem Opernprojekt „Licht“, dessen einzelne Teile nach den Wochentagen benannt sind. Nach der monumentalen Schönberg-Erfahrung kommt diese „Licht“-Auskopplung überraschend intim und verspielt daher. Die Produktion des Ensemble Musikfabrik hat sich für eine nur sparsame szenische Umsetzung entschieden, in der mit Kostümen, Bewegung im Raum und einigen wenigen Requisiten Michaels Erlebnisse auf den Stationen seiner Reise angedeutet werden.
Der Trompeter Marco Blaauw, der den Part des Michael spielt, ist fast ununterbrochen im Einsatz, spielt auswendig (!) und wirkt dabei tatsächlich fast so entspannt wie ein Engel auf Reisen. Je länger es dauert (aber das Ganze ist nach nicht einmal eineinhalb Stunden auch schon vorbei), desto weniger kommt einem das Geschehen vor wie Musik, sondern mehr wie eine Erzählung; und desto weniger nimmt man die Instrumentalparts als solche wahr, sondern eher wie einen Dialog von menschlichen Stimmen in einer freundlichen Fremdsprache.
Im Programmheft steht viel von Formeln und Superformeln, und es wäre sicher schön, das alles auch zu hören, aber das geht so schnell nicht. Man muss sich einfach freuen, dass es Menschen gibt, die in der Lage sind, aus einer monströs schwierigen Partitur ein großartiges musikalisches Ereignis zu machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen