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Daniel Bax über die Ansage der BundeskanzlerinMerkels Momentum

Wie oft hat man Angela Merkel vorgeworfen, keine Visionen zu haben? Mit ihrer generösen Geste, kurzzeitig die Grenzen für die Flüchtlinge aus Syrien zu öffnen, die auf dem Bahnhof von Budapest ausharrten, hat die deutsche Kanzlerin weit über den Tag hinaus ein Signal gesetzt, die Herzen vieler Syrer gewonnen und andere europäische Regierungen moralisch unter Druck gesetzt. Mit ihrem nüchternen „Wir schaffen das“ nahm sie all jenen Skeptikern den Wind aus den Segeln, die vor einer „Überforderung“ warnten, und machte denen Mut, die sich als Helfer selbstlos für Flüchtlinge einsetzten. Und mit ihrem Satz „Dann ist das nicht mein Land“ hat sie klargemacht, dass das keine Frage der politischen Opportunität ist, sondern ihrer festen Überzeugung.

Ausgerechnet die konservative deutsche Kanzlerin prescht damit in Europa voran, um die aktuelle humanitäre Krise des Kontinents zu lösen, und überholt selbst ihre sozialdemokratischen Amtskollegen von links. Während sich andere Europäer immer mehr einmauern, allen voran die Ungarn und Dänen, macht Merkel Druck, neue Grundlagen für ein solidarisches und liberales Europa zu legen, das Flüchtlingen prinzipiell offen steht.

Klar: Mit einer breiten Parlamentsmehrheit im Rücken kann sich Merkel im Herbst ihrer Amtszeit den Mut leisten, auch Teile ihrer Wählerbasis zu vergrätzen, und als dienstälteste Regierungschefin Europas hat ihre Stimme zwangsläufig Gewicht. Als wirtschaftsstärkste Nation Europas kann Deutschland außerdem im Prinzip nicht nur eine, sondern auch zwei Millionen Flüchtlinge verkraften. Es hat auch knapp zweieinhalb Millionen „Aussiedler“ vergleichsweise reibungslos integriert. Dennoch wird diese Entwicklung Deutschland langfristig verändern. Und die Flüchtlingsfrage wird Merkels Kanzlerschaft prägen, wie es die Wiedervereinigung bei Helmut Kohl und die Agenda 2010 bei Gerhard Schröder getan hat.

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