: Entlegene Gegenden
FESTIVAL Bei den „Kollektiv Nights“ vom Jazzkollektiv Berlin kollaborierenvon heute bis Mittwoch lokale Jazzmusiker mit eidgenössischen Kollegen
Die Schweiz ist abgeschottet durch Berge und umringt von übermächtigen Nachbarn. Obwohl neutral, sorgten die Eidgenossen für den Ernstfall vor. Mit dem „Schweizer Réduit“ wurde ein Tunnelsystem mit Bunkern und Munitionsdepots in die Gebirgsfelsen geschlagen, um dem Militär bei Bedarf Rückzugsmöglichkeiten zu bieten. Auch die Schweizer Musik wehrt sich, wenn man so möchte, gegen Vereinnahmungen, zieht sich in entlegene Gebiete jenseits fester Genregrenzen zurück. Stattdessen findet man bei vielen Musikern eine Neugier am Erproben ungewohnter Artikulations- und Kombinationsmöglichkeiten. Was auch den Austausch über Ländergrenzen hinweg einschließt.
Das Festival Kollektiv Nights des Jazzkollektivs Berlin demonstriert von heute an im Kreuzberger Tiyatrom eine Auswahl der unterschiedlichen Erscheinungsformen des eidgenössischen Jazz. An drei Abenden haben die Berliner Jazzmusiker je einen Gast aus der Schweiz im Programm, eingerahmt in Auftritte von Berliner Musikern. Drei deutsch-schweizerische Projekte sind ebenfalls vertreten. Einer der bemerkenswertesten Gäste des Festivals ist das am Mittwoch spielende Trio SchnellerTollerMeier aus Luzern. Bassist Andi Schnellmann, Gitarrist Manuel Troller und David Meier am Schlagzeug spielen eine Mischung aus Jazz und Rock, in der sie ihre Zutaten zu einer so kompakten Einheit verrühren, dass die einzelnen Elemente sich nur noch ansatzweise zuordnen lassen. Minimalistisch, dicht, oft härtere Gesten des Rock zitierend, gelingt ihnen mühelos der Spagat zwischen freier Improvisation und Formstrenge. SchnellerTollerMeier sind ein Powertrio, dessen Kraft sich nicht im Zurschaustellen individueller Fertigkeiten abnutzt, sondern das als kompakte Einheit auftritt, ohne dass die Beteiligten Eigenheiten hinter ihrer Gruppenidentität verstecken würden.
In die entgegengesetzte Richtung geht das Berlin-Berner Trio Aberratio Ictus, das heute spielt. Die Sängerin Rea Dubach und die Violinistin Laura Schuler, beide aus Bern, und der in Berlin ansässige deutsche Gitarrist Ronny Graupe zeigen in ihren ergebnisoffenen Erkundungen ebenfalls starkes Desinteresse an etwaigen Genrezuweisungen. In ihrer freien Kammermusik entsteht die Spannung aus einem Zusammenspiel, das wie ein scheinbar unverbundenes Nebeneinander wirkt, weil jedes Instrument deutlich als Einzelstimme agiert, woraus im Ergebnis dann eine sehr lockere Polyphonie entsteht, zu der Beatboxing genauso gehört wie atonales Geigenspiel.
Als weitere deutsch-schweizerische Kooperation kommt die abenteuerlustige Big Band Lauer Large des Posaunisten und Komponisten Johannes Lauer hinzu wie auch das elegante Christian Weidner Quartett. Von Berliner Seite gibt es unter anderem den unverwüstlichen Bassklarinettisten Rudi Mahall mit seiner Band Reich durch Pfand und das Quartett Schapitzki um den Saxofonisten Felix Wahnschaffe und den Pianist Marc Schmolling, beide Mitgründer des Jazzkollektivs und ihren Schweizer Kollegen in Sachen Neugier in nichts nachstehend. Tim Caspar Boehme
Bis 9. September, 20 Uhr, Tiyatrom, Programm unter www.jazzkollektiv.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen