: Sonderzug nach Hegyeshalom
Ungarn Polizei räumt Auffanglager in Röszke. Die Flüchtlinge sollen angeblich an die Grenze zu Österreich gebracht werden. Der Exodus geht weiter – kurz bevor die Grenze zu Serbien ganz dichtgemacht wird
Aus Röszke Ralf Leonhard und Tibor Rácz
Einen vergleichbaren Betrieb hat der Bahnhof von Röszke noch nie erlebt. Montagnachmittag traf ein halbes Dutzend Busse ein – jeder voll besetzt mit Flüchtenden, die von Serbien über die Grenze gekommen sind. Die Menschen werden sofort in Züge verfrachtet. Wohin es gehen soll, sagt man ihnen nicht. „Gerüchteweise nach Hegyeshalom“, weiß eine Mitarbeiterin des UNO-Flüchtlingskommissariat UNHCR. Also an die österreichische Grenze. „Aber uns sagt man auch nichts“, klagt sie. Ein Polizeioffizier bestätigt das Reiseziel.
In der Nacht war die Polizei mit an die hundert Bussen im provisorischen Auffanglager an der Grenze eingetroffen, erzählt Nikolas Lieb, Koordinator der österreichischen Freiwilligen. Ungarische NGOs und über hundert freiwillige Helfer aus dem Ausland hatten dort Ende vergangener Woche eine kleine Zeltstadt errichtet: mit Iglu-Zelten, Teeküche und einem Zelt für die notdürftigste medizinische Versorgung. Denn vonseiten der ungarischen Behörden ist keine Erstversorgung vorgesehen.
Ab etwa 4 Uhr morgens in der Nacht auf Montag wurden die Flüchtlinge aus den Zelten geholt und in die Busse verfrachtet. Ab 6 Uhr früh fuhren die Sonderzüge nach Hegyeshalom. „Die Leute sind glücklich“, sagt Nikolas Lieb. Keine Registrierung, keine Fingerabdrücke. Tausende Asylwerber frei Haus zu Händen von Werner Faymann und Angela Merkel. Im österreichischen Grenzort Nickelsdorf rechnete man mit 20.000 neuen Flüchtlingen. Wien beschloss zunächst, über 2.000 Bundesheersoldaten an die Grenze zu schicken – zur Betreuung der Ankommenden, wie versichert wurde. Später kündigte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) „temporäre Grenzkontrollen“ an.
In Ungarn trafen wenige Stunden, bevor der Grenzzaun an der letzten Stelle dichtgemacht werden sollte, unentwegt neue Gruppen von Geflohenen ein. Sie wurden von grimmig blickenden Soldaten und Polizisten empfangen, die aber nicht eingriffen.
Arabischsprachige Freiwillige mit gelben Warnwesten standen an der Grenzlinie und informierten die Ankommenden. Dienstag treten die neuen Fremdengesetze in Kraft, die die beschleunigte Abschiebung oder Inhaftierung der „illegalen Migranten“ erlauben. Humanitäre Organisationen und Freiwillige konnten ihnen noch einen warmen Tee und eine Flasche Wasser anbieten. Dann wurden sie gleich mit einem Bus zum Bahnhof transportiert.
Die am Wochenende befürchteten Epidemien sind ausgeblieben. Angesichts der prekären hygienischen Bedingungen und der Entkräftung vieler Flüchtlinge hatte man vor Seuchen gewarnt. „Nein, hier gibt es keine Tuberkulose oder Cholera“, beruhigt Alexander Baulesch jemanden am Handy. Der Wiener gehört zu den Freiwilligen, die in den vergangenen Tagen eine humanitäre Katastrophe verhindert haben.
Ob diese Massentransporte den Schleppern das Geschäft verderben, ist ungewiss. An der ÖMV-Tankstelle an der Autobahnabfahrt drängen sich nach Einbruch der Dunkelheit Autos Stoßstange an Stoßstange. Unter den Augen der Polizei läuft der Schleppermarkt. Ein Mann brüllt herum: „Kein Auto darf leer wieder wegfahren.“ Er ist der Chef der lokalen Schleppermafia. Ein Regiment von Fahrerinnen arbeitet für ihn. Sie müssen ihren Pkw vollladen und die knapp 400 Kilometer bis Hegyeshalom an der österreichischen Grenze fahren.
Pro Passagier sind 300 Euro fällig. Etwas Fahrgeld geht an den Chauffeur, der große Rest an den Boss, erzählt István, einer der Fahrer. Der Boss kennt alle Fahrer beim Namen. Er warnt sie, dass bei den Autos die Lichter in Ordnung sein müssen. In einer Nacht kann man zwei Touren schaffen. Ein gutes Einkommen für die Fahrer, eine fantastische Bereicherung für den Chef. Und das Geschäft wird noch besser. Als bekannt wurde, dass Bayern keine Flüchtlinge mehr aus Österreich hereinlasse, explodierten die Tarife. Jetzt kann die Durchquerung Ungarns 1.000 Euro kosten.
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