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Zeugnis Was empfinden Griechen, wenn sie „Troika“ oder „Eurokrise“ hören? Ein Brief aus dem griechischen Ökodorf Skala„Die Menschen fühlen sich tief verwundet“

Liebe Freunde,

„nichts ist wie vorher“, dieses Symbol für den Mai 1968 scheint auch für Griechenland von heute geschrieben worden zu sein. Alle, die die Ereignisse in Griechenland verfolgen, fragen sich: „War diese Demütigung der Griechen wirklich nötig?“ Oder, wie Mat O’ Bryan von der „Washington Post“ schreibt: „Deutschland will Griechenland nicht retten. Es scheint, es will das Land erniedrigen. (…) Der Widerstand eines kleinen Land muss in brutaler und erniedrigender Weise gestoppt werden, sodass keine andere Stimme sich jemals wieder erheben wird …

Das neue dritte Memorandum trägt nun auch die Unterschrift der linken Partei. Das ist etwas, das alle verletzt, die bewusst und mit vollem Herzen beim Referendum am 5. Juli mit OCHI (Nein) votiert haben. Die Selbstkritik von Ministerpräsident Tsipras, als er über Fehler, Auslassungen, Verblendungen und Fehlberechnungen sprach, ist akzeptabel und rechtmäßig, aber das betrifft die Vergangenheit und nicht die Gegenwart und Zukunft. Jetzt wird ein Plan benötigt, ein neuer Plan, der Fantasie, Wissen und Mut beinhaltet. Die Annahme, dass die Repräsentanten des internationalen Bankensystems mit offenen Karten, ehrlich und nicht unredlich verhandeln, hat sich als katastrophal erwiesen. Der Konflikt zwischen Griechenland und seinen Gläubigern hat Millionen von Bürgern weltweit die Augen geöffnet dafür, dass die EU sich eine antidemokratische Form verwandelt hat, die die Zwangsjacke der Austerität trägt, zu historisch neuen Trennungen und Konflikten führt und dem alten Geist des Faschismus erlaubt, sich neu zu erheben. Das kurz- und mittelfristige Resultat für Griechenland ist beunruhigend, und zu diesem Ergebnis trug die rachemotivierte Wut der deutschen Eliten eine Menge bei. „Die griechische Krise kann der Beginn des Endes von Europa sein, das wir kannten“, lautet der Titel eines Artikels, und ich denke, das ist auch wahr.

Die letzten Tage in Griechenland waren sehr intensiv. Ein Memorandum mit einer Unterschrift der Linken hat eine größere Macht als eine Atombombe. Es gibt keine Coolness, die Menschen fühlen sich tief verwundet. Die frustrierte Hoffnung, Desillusionierung und der Kollaps der Welt, wie wir sie kannten, verursachen tiefe Trauer. Und all das nach einigen Tage des „heroischen Nein“. Ist das eine Niederlage? Eine nötige Schleife? Eine Kapitulation? Ein Verrat? Es spielt keine Rolle, wie man es nennt, die Realität ist, dass nun alle Schmerz empfinden, ob sie nun die Einigung mit den Gläubigern als nötig empfanden oder sie bekämpften oder sich still verhielten.

Ich habe mehr denn je das Gefühl, dass es Zeit ist, die alten Wege des Denkens, Handelns, Konsumierens, Lebens und Seins zu verlassen und die nächste Stufenleiter zu betreten. Es ist Zeit für eine Entscheidung. Im Flugzeug zurück nach Griechenland erzählte mir eine Griechin, dass der einzige Effekt des neuen Abkommens sei, die Entscheidungen zu verschieben. Weil die Menschen sich nicht jetzt verändern wollen. Das machen wir alle so, mehr oder weniger. Niemand will seinen altbekannten komfortablen Lebensstil ändern. Aber wir müssen uns bewegen, die globale Situation erfordert es. Wir machen immer eine Entscheidung. Auch wenn wir uns nicht entscheiden.

Wir danken euch sehr herzlich für euer Mitgefühl, euer politisches Engagement, eure Solidarität. Nach dem Gipfeltreffen der Ökodörfer-Bewegung kamen wir mit so vielen Angeboten und Möglichkeiten zurück. Wir sind tief bewegt von der Resonanz der Leute. (…) Wirklich nötig ist es, zusammen Möglichkeiten zu schaffen für eine autonome dezentralisierte Gemeinschaft, die uns erlaubt, in Würde und Solidarität zu leben, wenn das alte System kollabiert. Bitte helft uns mit eurem ökonomischen, ökologischen, sozialen und technischen Wissen, die Schäden der jetzigen Krise in Möglichkeiten zu verwandeln, für das Wohlergehen von allen.

Wir glauben, die beste Hilfe wäre, das Skala-Ökodorf in einen selbstgenügsamen, nachhaltigen internationalen „Friedensgarten“ zu verwandeln. (…) Griechenland befindet sich geopolitisch zwischen drei Kontinenten, drei großen Religionen und vielen verschiedenen Kulturen, die hier zusammenkommen. Es könnte ein Akupunkturpunkt für Frieden werden …

Mit großer Dankbarkeit, Anna

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