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Nah am Salzwasser gebaut

BOSPORUS Weniger esoterisch als befürchtet: Bei der Istanbuler Biennale lotet man die Grenzen zwischen Kunst und „Nicht-Kunst“ aus und zeigt politische Kunst

aus Istanbul Ingo Arend

Bloodwater. Seit Monaten machte das Wort am Bosporus die Runde. Im Südosten zahlt die Türkei für den aufgekündigten Waffenstillstand mit den Kurden einen verheerenden Blut- und Bombenzoll. Istanbul ist zum Nadelöhr der weltweiten Flüchtlingsströme geworden. Entsetzt schaut das Land auf das Bild eines toten Flüchtlingskinds am Strand. Metaphorisch hat sich für türkische Intellektuelle der Bosporus längst blutrot gefärbt. Da wirkte das Thema „Saltwater – A Theory of Thought Forms“, das Carolyn Christov-Bakargiev, die Kuratorin der 14. Istanbuler Biennale, über ihre Schau geschrieben hatte, plötzlich seltsam deplatziert: eine Mischung aus intellektuellem Luxus und platter Evidenz.

Schwarzes Meer, Bosporus, Mittelmeer: Es lag nahe, Wasser, das Lebenselement der 12-Millionen-Metropole, einmal zum Thema der Biennale zu machen. Trotzdem klang es unfreiwillig sarkastisch, als Bakargiev im Vorfeld einer verwundeten Nation Gesundheitstipps gab. „Salzwasser“ schrieb sie in ihrem kuratorischen Statement, „heilt Atmungsprobleme und viele andere Krankheiten. Es beruhigt auch die Nerven.“

Und dennoch ist die 14. Ausgabe der Biennale, die am Wochenende eröffnet wurde, keine Übung in Esoterik geworden. So mancher Beobachter hatte dies befürchtet; auch deshalb, weil Bakargiev seit Monaten ausgerechnet von der britischen Theosophin Annie Besant geschwärmt hatte. Das 1901 veröffentlichte Buch „Thought forms“ der Feministin und Freimaurerin, die Hinduismus und Ariertum erneuern wollte, erhob sie zu einem philosophischen Blueprint ihrer Schau.

Wer Bakargievs zentrale Aus­stellung im Istanbul-Modern-Museum betritt, sieht als Erstes das Video „Imagination“. Darin hat die Künstlergruppe Artıkişler Kolektifi Arbeiteraufstände in Ankara 2010 dokumentiert – drei Jahre vor den Kämpfen um den Gezipark in Istanbul. Und im 1911 eröffneten Art-Nouveau-Hotel „Splendid Palace“ auf der Ferieninsel Büyükada im Marmarameer lässt der südafrikanische Künstler William Kentridge in einer Videocollage Leo Trotzki, von 1929–1933 im Exil in der Türkei, den „demokratischen Faschismus“ der 30er Jahre beschwören, den manche heute in der Türkei heraufdämmern sehen.

Es zeichnet die Istanbul-Biennale aber aus, dass sie sich in einem Moment äußerster politischer Bedrängnis nicht zu plakativer Politkunst und billigen Gesten hinreißen lässt. Wie schnell man dabei von den Ereignissen überholt werden kann, hatte die 13. Istanbul-Biennale vor zwei Jahren demonstriert, als ihr Konzept des öffentlichen Raums vor dem Kampf um den Gezipark über Nacht zu einer Proseminarübung ausblich. Die politische Kunst, die Barkagiev in Istanbul präsentierte, überzeugt dagegen durch ihre Tiefenwirkung und ihr Formbewusstsein.

Nehmen wir den amerikanischen Künstler Michael Rakowitz. Auf beklemmende Weise ruft der Chicagoer in seiner Arbeit „The flesh is yours, the bones are ours“, im Jahr des Gedenkens an den Völkermord an den Armeniern, ein Tabuthema auf. In der griechischen Schule in Galata hat er Nachbildungen der Stuckaturen auf den Boden gelegt, die früher die Spezialität armenischer Handwerker waren. Wer genau hinsieht, merkt, dass die geschwungenen Zierelemente auf den Deko-Stücken aus Knochen geformt sind.

Geschickt schirmt sich die Kuratorin dabei dank einer Reihe guter Künstler gegen die Kritik ihrer unkonventionellen Thesen ab. In Istanbul arbeitet sie zum wiederholten Mal mit ihnen zusammen: Rakowitz, Pierre Huyghe, Anna Boghiguian, Theaster Gates. So demonstriert sie eine Art kuratorische Nachhaltigkeit gegen das neoliberale Kuratoren-Prinzip des „Ex und hopp“: Jede Biennale wirft dem Markt eigentlich ein paar umjubelte, schnell wieder vergessene Unbekannte zum Fraß vor.

Barkagievs Wanderzirkus enttäuscht hingegen nicht. Wieder einmal ist es alles andere als Standardware, was etwa der belgisch-mexikanische Künstler Francis Alÿs in Istanbul abliefert. Sondern von einer stillen, poetischen Kraft; etwa, wenn in seinem neuen Schwarz-Weiß-Film „The Silence of Ani“ Kinder aus Ostanatolien in den Grasfeldern der verlassenen, historischen armenischen Hauptstadt Vogelmelodien auf flötenähnlichen Instrumenten spielen.

Auf dem Hintergrund dieser beeindruckenden historischen Rückgriffe dekliniert Bakargiev, wie sie es schon 2012 bei der Documenta in Kassel getan hat, ihre posthumanen Obsessionen durch: Wissenschaft und Natur als der Kunst gleichberechtigte ästhetische Formen. Als Medium der „Methode Bakargiev“ fungiert dabei die Wunderkammer. In die Rotunde im Kasseler Fridericianum stellte sie vor drei Jahren Profanes neben Hochkulturelles. In Istanbul stellt sie Gallé-Vasen mit ihren vegetabilen Ornamenten neben ein Buch Charles Darwins über Orchideen und die Neuronen-Zeichnungen des spanischen Naturforschers Santiago Ramón y Cajal. Die Natur ist schön, lautet eine der Botschaften, die Methoden der Wissenschaft auch. Hartnäckig lotet Bakargiev solche Überlappungszonen aus, stellt die Grenzen zwischen Kunst und „Nicht-Kunst“ infrage.

Bakargievs „Channel“ ist dann selbst eine „Thought Form“. Metaphorisch schließt die Arbeit den Kanal Bosporus mit dem Salzionenkanal kurz, der für den Energiestoffwechsel der menschlichen Zelle überlebenswichtig ist. Technikkritik und Natureuphemismus umspülen sich bei der streitlustigen Italoamerikanerin so wie Salz- und Süßwasser im realen Bosporus. Smartphones, hatte sie wiederholt gelästert, geben beim Fall ins Salzwasser den Geist auf, der Mensch kann nicht leben ohne Salz.

Gegen die Exzesse der Gewalt öffnet Kunst den Raum für den friedlichen Diskurs

Die Arbeiten der 80 eingeladenen Künstler in 35 Venues ziehen sich wie in einem weit verzweigten Kapillarsystem durch die riesige Stadt. Was auch die Frage beantwortet, ob die Biennale in die explosive politische Lage passt. Kunst kann keine politischen Konflikte befrieden. Gegen die Exzesse der Gewalt öffnet sie aber Räume für den friedlichen Diskurs.

Und dann steht man am Ende einer dieser langen Wege vor den Tierstatuen, die der junge argentinische Bildhauer Adrián Villar Rojas auf ins Wasser montierte Betonplatten an den Strand vor der verfallenen Exil-Villa Leo Trotzkis auf Büyükada stellte: verstörende Zwitterwesen aus weißem Kunststoff und verrottender Natur: Holz, Zweige, Federn. Bei allen esoterischen Untertönen der Kuratorin: Es sind Momente wie diese, die die mitunter magische Anziehungskraft von Bakargievs Biennalen erklären.

Upperclass-Club

Wenn Kritik angebracht ist an der Istanbul-Biennale, dann eher, wie sie sich sozial verortet. Denn wenn die Biennale hätte symbolisch Solidarität mit Flüchtenden und Bedrängten demonstrieren wollen, hätte sie ihren VIP-Empfang sicher nicht im noblen Anadolu Club auf Büyükada zelebriert –traditionell Treffpunkt der Istanbuler Upperclass der 60er Jahre.

Unterm Pavillon sprachen Orhan Pamuk als Vorsitzender des neu gegründeten Freundeskreises der Biennale und William Kentridge Freundlichkeiten und sangen das Loblied der Sponsoren. Ein Hauch von High Society hat sich über eine Schau gelegt, die in den knapp 30 Jahren ihres Bestehens das Interesse auf sich gezogen hatte, weil sie alles Klassische und Etablierte früh und radikal verabschiedet hatte. Die Reste demokratischer Gegenöffentlichkeit traf man eher auf der Vernissage im unabhängigen Schauraum Depo in Galata. Hier schwamm man im „Salzwasser“ des Widerständigen, das der blockierten „Zelle“ Türkei erst wieder neue demokratische Energien zuführen wird.

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