Warum Schönberg super ist

KLASSIKER Das Musikfest Berlin, das heute beginnt, feiert den österreichischen Komponisten Arnold Schönberg. Der Avantgardist und Begründer der Zwölftonmusik gilt immer noch als Zahlenmensch. Doch das ist Quatsch

Zeit der „freien Atonalität“: Arnold Schönberg in Berlin 1912 Foto: Arnold Schönberg Center Wien

von Tim Caspar Boehme

Die Musik des 20. Jahrhunderts hat ein Problem. Bis heute. Als einige Komponisten vor gut 100 Jahren zu der Einsicht gelangten, dass die Harmonien verbraucht und an die Grenzen ihrer Ausdrucksmöglichkeiten gelangt waren und sie daher beschlossen, dass Atonalität und die geschmähten Dissonanzen fortan erlaubt sein sollten, erschien ihnen das wie eine zwingende Konsequenz aus dem Lauf der Musikgeschichte. Allerdings gab es große Teile des Konzertpublikums, die mit diesen ästhetischen Innovationen nur sehr wenig anfangen konnten und den atonalen Darbietungen lieber fernblieben. Ganz abgesehen davon, dass eine Reihe von Komponisten der Aufforderung nicht Folge leisten wollten und weiter tonal-harmonische Werke schrieben.

Auch 100 Jahre später hat sich an den Gewohnheiten des klassischen Konzertbetriebs wenig geändert, es dominiert das Repertoire aus Klassik und Romantik, sperrige Stücke werden gern in den ersten Programmteil gelegt, um zu verhindern, dass sich der Saal in der zweiten Hälfte des Abends allzu deutlich leert. Die Toleranz für Atonales mag insgesamt größer geworden sein, doch werden derartige Bedürfnisse eher auf Festivals für Neue Musik bedient als im regulären Abonnementkonzert.

Den Fortschritt erhalten

Wenn das Orchesterfestival Musikfest Berlin in diesem Jahr einen großen Schwerpunkt seines Programms dem österreichischen Komponisten Arnold Schönberg widmet, ist keinesfalls gewiss, dass die Sitzreihen ebenso dicht belegt sein werden wie bei Beethoven oder Schubert. Und das, obwohl sich Schönberg stets auf die „klassischen“ Vorbilder berufen hat und durchaus in ihrer Tradition steht. Für ihn ging es nie darum, radikal mit der Vergangenheit zu brechen, sondern ihre Errungenschaften zu bewahren und in eine zeitgemäße Form zu bringen. „Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt“, lautete eine von Schönbergs Selbstbeschreibungen.

Schönbergs Entwicklung der Zwölftontechnik war eine solche „konservative“ Strategie. Mit ihr wollte Schönberg „die Überlegenheit der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre“ sichern. Die Zwölftontechnik beruht auf dem Prinzip, die zwölf Töne der chromatischen Tonleiter als Reihe zu organisieren. In einer Zwölftonkomposition müssen, grob gesagt, alle Töne der Reihe erklungen sein, bevor sie wiederholt werden dürfen.

Dabei hatte Schönbergs Vorgehensweise weniger mit bürokratischem Ordnungsdenken als mit dem Versuch zu tun, die frühere musikalische Logik, in der die Harmonien eine entscheidende Stütze bildeten, durch ein neues Prinzip zu ersetzen. Und das sollte dann Schule machen – vornehmlich im zur Überregulierung neigenden „Serialismus“ der Nachkriegszeit, in dem neben der Tonhöhe auch andere Parameter wie Lautstärke und Tondauer bestimmten Gesetzen unterworfen wurden.

Schönbergs Entwicklung hin zur Zwölftonmusik vollzog sich in mehreren Schritten. Beim Musikfest kann man die Etappen, die er auf diesem Weg zurücklegte, detailliert nachvollziehen. Schönberg, der aus einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie stammte und Autodidakt war, hatte sich zunächst im Gestus der Spätromantik ausgedrückt. Zu seinen berühmtesten Werken aus dieser frühen Phase gehören sein hochexpressives Streichsextett „Verklärte Nacht“ von 1899 – im Eröffnungskonzert mit der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim in der Orchesterfassung zu hören – und die durchgeknallt kolossale, zwischen 1900 und 1911 komponierte Kantate „Gurrelieder“. Aus diesem Zweistunden-Werk wird das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Marek Janowski das „Lied der Waldtaube“ aufführen.

Die „Gurrelieder“ ziehen alle Register im Versuch, Wagner mit dessen eigenen Mitteln noch einmal zu überbieten, was sich auch in der Besetzung niederschlägt, die vier Chöre und ein jeden Orchestergraben sprengendes Orchester vorschreibt. Dabei hatte Schönberg zum Zeitpunkt der Fertigstellung die tonale Musik schon aufgegeben und begonnen mit der „freien“ Tonalität zu experimentieren. Sein Monodram „Erwartung“ von 1909 mit einem Libretto der Schriftstellerin Marie Pappenheim etwa zeigt eine hoch subjektivierte Tonsprache, die Orchesterklänge sind stark fragmentiert, brechen immer wieder in unterschiedlichste Richtungen aus, wie zur Illustration der wahnhaft anmutenden inneren Regungen der Protagonistin. Das Royal Danish Orchestra wird das Werk mit der Sängerin Petra Lang als Solistin aufführen.

In seinen „Fünf Orchesterstücken“ – ein weiteres Stück in Barenboims Programm – aus demselben Jahr experimentiert Schönberg unter anderem mit den Klangverschiebungen durch wechselnde Instrumentenkombinationen. „Klangfarbenmelodie“ nannte er dieses Verfahren später. Damit nahm Schönberg eine weitere Entwicklung der Moderne der Nachkriegszeit vorweg, aus der in den siebziger Jahren die Spektralmusik mit ihren Obertonforschungen hervorgehen sollte.

Schönberg wollte in seinen Werken „musikalische Gedanken“ ausdrücken

Dabei ging es Schönberg in seiner Zwölftonmusik nie um Technik als Selbstzweck. Er wollte vielmehr „musikalische Gedanken“ ausdrücken, für die er ein Vokabular entwickelte, das genauso „mathematisch“ war wie der Kontrapunkt der Barockmusik. Und mindestens genauso expressiv. Ein wuchtiges Beispiel für die Emotionalität seiner „Dodekaphonie“ sind Schönbergs „Variationen für Orchester“ von 1928, die ebenfalls unter Barenboim geboten werden. Nüchtern-rationale Musik geht anders.

Bekenntnis zum Zionismus

Wie ernsthaft hingegen Schönbergs Wunsch war, dass man seine Melodien „kennt und nachpfeift“, darf bezweifelt werden. Schönberg war wohl einfach ein extremer Charakter: So wurde er, der selbst keine Musikhochschule besuchte, zum einflussreichen Kompositionslehrer und Begründer der „Zweiten Wiener Schule“ mit Alban Berg und Anton Webern als wichtigsten Schülern. Auch der US-Amerikaner John Cage sollte später bei ihm in Los Angeles studieren. Als Jude geboren, konvertierte Schönberg zudem 1899 zum Protestantismus, kehrte jedoch 1933 im Pariser Exil wieder zum Judentum zurück – kurz bevor er mit seiner Familie in die USA emigrierte, wo er bis zu seinem Lebensende blieb. In jungen Jahren verstand er sich als deutscher Nationalist, bekannte sich mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus dann aber entschieden zum Zionismus. Jüdische Themen wurden auch in seiner Musik immer prominenter, angefangen mit seinem 1922 entstandenen Oratorium-Fragment „Die Jakobsleiter“, das beim Musikfest vom Deutschen Symphonie-Orchester unter Ingo Metzmacher gegeben wird.

Die Entwicklung hin zu Zwölftonmusik und Atonalität war übrigens keine ästhetische Einbahnstraße. Besonders in den USA kamen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diverse Strömungen auf, die sich bewusst wieder an C-Dur und Verwandtes wagten. Neben der Neoromantik und Postmoderne ist es vor allem die Minimal Music, die eine Renaissance der Harmonie befördert hat. Einen Eindruck davon bekommt man heute Abend mit Kompositionen der beiden Minimalisten John Adams und Steve Reich, die einen gewissen Kontrast zu Schönberg bilden. Gestört hätte ihn das wohl kaum. Sein Tennispartner in den USA hieß George Gershwin, und der schrieb immerhin die „Rhapsody in Blue“.