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Heimat Neukölln

Gut und böse Regisseur Andreas Pieper hat den Blick für Berliner Milieus („Nachspielzeit“, 20.15 Uhr, Arte)

von Jens Müller

Der Heimatfilm ist wahrscheinlich schlechter beleumundet als der Pornofilm – der sich eine Zeit lang einen Jux daraus gemacht hat, den Heimatfilm zu parodieren: Steht Letzterer doch für die Schwamm-drüber-Mentalität, aber eben auch für die Prüderie der Wirtschaftswunderjahre.

Schon damals hatte ein im Silberwald mit dem Wilderer um das Schwarzwaldmädel konkurrierender Förster wenig mit der Lebensrealität der meisten Menschen zu tun. Als dann in den 1980er, 1990er Jahren der „neue“, der realistische Heimatfilm ohne Zuckerguss aufkam, spielte er immer noch auf diesen dünn besiedelten Almwiesen in der bayerisch-österreichischen Grenzregion.

Das nur als Prolog. Denn wenn Regisseur Andreas Pieper seinen Film nicht ausdrücklich einen Heimatfilm nennte – es käme vielleicht keiner darauf.

Aber warum eigentlich nicht? Die Landschaft heißt Neukölln. Der Förster heißt Cem, der Wilderer Roman. Die heile Welt ist das Multikulti-Idyll. Gut und Böse sind zunächst sauber getrennt. Cems Familie mit den türkischen Wurzeln ist durch und durch sympathisch, idealtypisch integriert. Cem ist Altenpfleger, seine Schwester Lehrerin, die Eltern betreiben ein kleines Café/Restaurant („Trotzki“).

Roman ist ein Brutalo, ein Rechter. DDR-sozialisiert, klar. Frederick Lau kann solche Typen gut spielen, man denke nur an seinen Auftritt in „Oh Boy“, der dem Helden eine blutige Nase beschert. Roman ist gefährlicher. Cem ist sich sicher, dass er es war, der den Eltern den Stein ins Fenster geworfen hat. Ganz sicher hat Roman das Schwarzwaldmädel, Cems Kollegin im Pflegeheim, zusammengeschlagen und -getreten. Aber immerhin, Roman besucht seinen Opa im Heim. Der dort von Cem betreut wird. Der nicht ahnt, dass sein eigener Enkel dessen Herzallerliebste verprügelt hat. Der Cem einen Rat gibt: „Letztlich wollen Frauen einen Mann, der ihnen Rosen schenkt und sie beschützt. Verpass dem Banditen, der das gemacht hat, eine Abreibung!“

„Abreibung“ ist ein Begriff aus der Zeit, als die Heimatfilme noch zuckersüß waren. Über Cems Bett hängen, neben einem kopfstoßenden Zidane – so werden die Herzen der französischen Arte-Zuschauer erobert –, Baader und Ensslin. Wem gehört die Stadt: Cems Ambitionen als Aktivist tendieren ins Pyromanische. Des Nachts wirft er auch schon mal einen Brandsatz gegen die Gentrifizierung seines Heimatkiezes. Gegen Roman soll eine Autobombe die Waffe seiner Wahl sein.

Berliner Multikulti- Idylle: Der Förster heißt Cem, der Wilderer Roman

Spätestens hier ist klar, dass Gut und Böse sich doch nicht ganz so einfach auf Cem und Roman verteilen lassen. Einen eindeutig unzweifelhaft abgrundtief Bösen gibt es aber doch auch noch, und er setzt Cem und Roman gleichermaßen zu.

„Du kriegst mich hier nicht raus. Hier sind meine Kinder aufgewachsen“, sagt Cems Vater schon in Minute vier zu ihm. Damit ist das Thema „Heimat“ gesetzt. Pieper: „Wenn es in Deutschland neben der Mehrheitsgesellschaft zwei große Minderheiten gibt, dann die Ostdeutschen und die Migranten.“ Der Heimatfilm der 1950er Jahre steht, neben allem Eskapismus, auch für die Heimatlosigkeit der Kriegsflüchtlinge, die es zu integrieren galt.

Selten haben Berlin und Neukölln und ihre Milieus im Film so authentisch ausgesehen. Das liegt an der bis in die Details sorgfältigen Ausstattung. Es liegt auch an der bis in die Nebenrollen herausragenden Besetzung: Mehmet Atesci (Cem), Friederike Becht (Herzallerliebste), Jacob Matschenz, Uwe Preuss, Vedat Erincin (Cems Vater). Horst Westphal als Romans Großvater: Wie die Verhältnisse und das Alter den ehemaligen DDR-Sportreporter verbittert haben, wie Defätismus und Sarkasmus doch noch in Nos­talgie übergehen können, wenn er über den Fußball sinniert: „In Hamburg hat Schön uns gewinnen lassen. Damit wir Erster werden. In die harte Gruppe kommen. Brasilien, Argentinien. Holland. Es war eigentlich der Anfang vom Ende. Trotzdem war das Leben nie mehr besser.“

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