Egon Bahr - Nachruf

Was haben wir, die heute in Deutschland Lebenden, dem verstorbenen Egon Bahr zu verdanken? Die Antwort lässt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen: alles. Denn Bahr hat die Grundlagen für ein gemeinsames Europa geschaffen und seinen Bewohnern die Furcht vor einem Atomkrieg genommen.

Man mag sich heute nicht mehr vorstellen, wie Europa zu den Zeiten aussah, als Bahr 1960 in die Politik einstieg. Deutschland, Europa, ja die Welt war in zwei verfeindete Blöcke geteilt, getrennt nicht nur durch Stacheldraht. Auch das Denken folgte der Logik des Misstrauens und der Feindschaft. Wer einer friedlichen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Verständigung im Ost-West-Konflikt das Wort redete, galt schnell als ein gefährlicher Vaterlandsverräter.

Und dennoch hat einer es gewagt, dieses eherne Prinzip der gegenseitigen Feindseligkeit infrage zu stellen. Das war der mutige Patriot Egon Bahr. Zusammen mit Willy Brandt prägte er den Begriff des „Wandels durch Annäherung“, womit er keineswegs ein Heranwanzen an die Diktaturen des Ostblocks meinte, sondern den Versuch, sich mit der Gegenseite trotz scheinbar unüberbrückbarer Differenzen auf einen Modus Vivendi zu einigen, der den Menschen helfen sollte.

Bahr erntete nicht nur wütende Proteste von Kalten Kriegern. Ernsthafter waren die Einwände, die ihm unterstellten, mit seiner Politik würde er Menschenrechtsverletzungen hinnehmen, ja gar salonfähig machen. Doch der Lauf der Welt hat Egon Bahr recht gegeben.

Bahr betrieb Realpolitik, als der Begriff noch nicht erfunden war. Mit seiner Entspannungspolitik leistete er unabdingbare Vorarbeit zur Überwindung des Ost-West-Konflikts und zur Einigung Europas. Im Osten nahmen viele Menschen die Entspannungspolitik beim Wort und forderten Demokratie. Im Westen bröckelten die Feindbilder. Tausenden Atomwaffen und Millionen Nato-Soldaten hatte der Warschauer Pakt über Jahrzehnte standhalten können. Gegen den Wandel durch Annäherung aber fanden die Machthaber kein Rezept.

Egon Bahr hat sich bis zuletzt für Verständigung eingesetzt. Im Ukrainekonflikt warnte er vor einem neuen Feindbild Russland und ließ sich dafür gern als Putinversteher beschimpfen. Für Bahr war Frieden die Ultima Ratio, für dessen Bewahrung man auch unangenehmen Gestalten die Hand schütteln und faule Kompromisse schließen musste.

Wenn Sie in diesen Tagen eine Grenze überqueren, ohne es zu bemerken, wenn Sie an Kasernen vorbeifahren, ohne einen Soldaten zu sehen, wenn Sie Freunde in Warschau, Moskau, Riga oder Prag besuchen, dann sollten Sie einen klitzekleinen Moment innehalten und sagen: Danke, Egon Bahr!

KLAUS HILLENBRAND