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Kraft der Erinnerung

Tanz Um das Tasten nach Erinnerung, das Meer und klare Formsprache geht es in der „Tanz im August“-Retrospektive von Rosemary Butcher in der Akademie der Künste

von Astrid Kaminski

Wer in New York umsonst Schiff fahren will, nimmt die Staten ­Island Ferry. An der Freiheitsstatue vorbei geht es in straffem Kurs auf die eingemeindete Insel zu. Aussteigen lohnt ohne spezielles Rechercheziel eher nicht. Als die britische Choreografin Rosemary Butcher 1970 für zwei Jahre nach New York kam, um sich dort durch die Begegnung mit den durch das berühmte Judson Dance Theatre (1962–64) angestoßenen Entwicklungen den ultimativen Kick für ihre Kar­riere zu holen, war die Schifffahrt zwar noch nicht umsonst, aber trotzdem absolut lukrativ: Die Fähre war sozusagen ein Guerilla-Tanz-Performance-Ort. Der neue postmodern dance brauchte Orte, am liebsten welche, die keine klassischen Thea­terbühnen waren. Und Publikum natürlich auch. 23 Minuten dauert eine Überfahrt – ein gutes Setting.

Rosemary Butcher hat seitdem beständig Kurs auf Choreografien und Installationen in spezieller Umgebung genommen: in Galerien, Museen, alten Werkstätten, Höfen, an Bordsteinen. Wobei sie sich gar nicht mehr erinnert, ob zum Beispiel das Foto mit dem einsamen Tänzer zwischen den Schneeinseln auf einem breiten Londoner Boulevard eher ein Shooting war oder Teil einer Choreografie. Die Schwarz-Weiß-Fotografie gehört zur Butcher-Retrospektive „Memory in the Present Tense“ beim „Tanz im August“-Festival mit einer Ausstellung in der Akademie der Künste.

Das Foto wurde von weit oben aufgenommen, und der Tänzer wirkt, als könne er jederzeit im Aufwärtssog wie eine Wolke wegtreiben. Auf einem anderen Foto läuft Butcher mit einer Gruppe Kolleg*innen in weißen Jumpsuits am New Yorker Wa­shing­ton Square um ein mon­drian­artiges Ensemble von Sandkästen herum.

Das ist ein Stück von Elaine Summers, der Mitbegründerin des Judson Dance Theatre, meint sie. Aber was und warum genau, hat sie vergessen. Es geht ihr nicht um harte Archivrecherche, sondern um das, was im Titel der Ausstellung steht: Erinnerung. Und was ist Erinnerung anderes als das Abtasten von Bildern? Als Impulse, die einen anspringen oder konfrontieren, flüchten lassen oder verloren geglaubte Energien reaktivieren?

Moving in Time

Die Retrospektive beim noch bis zum 4. September dauernden Festival „Tanz im August“ ist Rosemary Butcher gewidmet, der britischen „Ikone des New Dance“.

In der Ausstellung „Moving in Time: Making Marks and Memories“ werden in der Akademie der Künste am Hanseatenweg Szenenfotos, Videos und Notizen aus Rosemary Butchers Archiv zu ihrer choreografischen Tätigkeit seit 1976 präsentiert (bis 30. August täglich außer Montag, 15-20 Uhr). Dort ist nun auch ihre Tanz-Video-Installation „After The Last Sky“ zu sehen.

Am 2. und 3. September gastiert Rosemary Butcher dann mit ihrer Choreografie „Scan“ (1999/2000) im HAU1. ww.tanzimaugust.de

Rosemary Butcher hat viel mit Künstler*innen aus anderen Disziplinen, vor allem aus Musik, bildender Kunst und Architektur, zusammengearbeitet. Zu ihrer Arbeit mit der Architektin Zaha Hadid sagt sie aber nur, dass diese ihr die Ley-Linien – eine Art sensible Erdmeridiane – entdeckt habe, und: „We don’t have to love our heroes.“

Apropos Held*innen: Die späte Entdeckung Rosemary Butchers in Berlin – der Münchner Tanzproduzent Joint Adventures produziert ihre Stücke immerhin seit einigen Jahren – hat sicher auch damit zu tun, dass sie nicht in der Judson-­Dance-­Entstehungszeit dabei war und hauptsächlich in England gearbeitet hat.

Große Klarheit

Was alle ihre in der Retrospektive gezeigten Arbeiten prägt, ist eine große formale Klarheit, die Perfektionierung an sich einfacher Bewegungen sowie eine setzende Entschiedenheit im Bezug auf ihr (Bewegungs-)Material. In „The Test Pieces“ (2015) – sie wurden vergangene Woche live präsentiert – sind es Taue, die von fünf Tänzern wie gezähmte Schlangen gerollt, geschlauft, gestaucht und geschleift werden. Zeit läuft hier nicht strahlförmig durch den Raum, im Gegenteil, sie wird von ihm sequenziert. Eingefasst ist die Arbeit von vier Kameras auf Fußhöhe, die das Geschehen an bestimmten Bewegungsachsen aufzeichnen.

Butchers Gefühl für den Einsatz von Kameras ist erstaunlich. Nur selten ist gefilmter Tanz interessant, bei ihr schon. In der gleichfalls vergangene Woche gezeigten Videoinstallation „Secrets of the Open Sea“ wird die Kamera hin und her gespült, auf den Leinwänden tauchen die in ihrer Kopplung aus Zeichenhaftigkeit und Dynamik kalligrafisch wirkenden Bewegungsfiguren der Tänzerin Lucy Suggate wie von Wellen angespülte Errata auf.

Dass selbst die aufgezeichneten Choreografien wie „Touch the Earth“ oder „Body as Site“ in der Retrospektive ihre Wirkung entfalten können, liegt dagegen an Butchers bildhaften Raum­aufteilungen, ihrer skulpturalen Verwendung des negativen Bewegungsraums und ihrer Einbeziehung von Installationen wie denen von Anya Gallaccio oder Dieter Pietsch. Und an ihrer abstrakten Bewegungssprache, die durch ihre lange Sedimentierung aus konzeptuellen Vorgaben etwas Artefaktisches bekommt.

Meisterin der Umsetzung von Butchers Ideen ist Elena Gianotti, die als Tänzerin wie ein Alter Ego der Choreografin wirkt. Ihre ahornpropellergleichen Pirouetten, ihre tiefen Federsprünge, ihr meditatives Verschwinden in der Videoinstallation „Vanishing Point“, gedreht am andalusischen Meer, verleihen Butchers Purismus Würde und Perfektion.

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