Kunst der Linien

Ausstellungen Der Braunschweiger Kunstverein und das Kunstmuseum Wolfsburg zeigen Arbeiten des Künstlers Carsten Nicolai – darunter eine meterlange Wandprojektion aus Licht, Formen und Klang

In Wolfsburg zu sehen: Variationen der Linie Foto: Richard-Max Tremblay, VG Bild-Kunst

Die Sitzbank vibriert leicht – das kommt vom Tonwandler, der den Sound im Raum physisch erfahrbar macht. Gegenüber wabern Formen und Muster über eine gigantische Projektionsfläche: wechselnde Sequenzen universeller grafischer Ordnungsprinzipien. Es handelt sich um Variationen der Linie, die Ur-Signatur aller Kunst. Zu sehen ist die Projektion „Unidisplay“ des Klangkünstlers Carsten Nicolai im Rahmen einer Gruppenausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg.

Der Braunschweiger Kunstverein widmet dem zeitgenössischen Klangkünstler sogar eine Einzelausstellung. Carsten Nicolai und sein älterer Bruder Olaf sind seit geraumer Zeit international gefragte Stars der deutschen Kunst. Olaf Nicolai ist eigentlich Germanist und Quereinsteiger in bildnerischen Sparten. Er übersetzt historische, politische oder geisteswissenschaftliche Fragestellungen ästhetisch konzeptionell. Ende 2014 wurde am Wiener Ballhausplatz, dem politischen Machtzentrum Österreichs, sein Betonmonument im Gedenken der Verfolgten der NS-Militärjustiz eingeweiht.

Carsten Nicolai hat in Dresden Landschaftsarchitektur studiert – und macht jetzt Klangkunst auf naturwissenschaftlicher Phänomenologie. Er war 2001 und 2003 bei Biennalen dabei, hat 2007 den Zürich-Kunstpreis gewonnen, wird weltweit gesammelt.

Seine Ausstellung in Braunschweig widmet sich der Komplexität der Wahrnehmung und der Herausforderung der Sinne. Im Erdgeschoss der Villa des Kunstvereins hat Nicolai dafür ein Arsenal hoch ästhetischer Apparaturen aufgefahren. Im Obergeschoss zeigt ein Archiv seine forschende Inspiration.

Gleich in der Eingangsrotunde schwingen dem Besucher nun zwei mächtige schwarze Pendel entgegen, ihre unteren Enden sind mit Permanentmagneten besetzt. Sie schlagen in variierender Amplitude über zwei Monitore mit Streifenmustern aus, deren regulärer Aufbau durch die Magnetstrahlen nun immer neue grafische Deformationen zeigt. Die Streifen leicht vibrierender Frequenz sind per Video von einer Schar Neonröhren im Nebenraum abgenommen. Eine akustische Übersetzung macht aus den optischen Störungen auch Sequenzen elek­tronisch-markigen Klackens.

Die Arbeit versteht sich als eine Homage an den Video-Pionier Nam June Paik. Der experimentierte in den 1960er-Jahren ganz handwerklich mit Fernseher und Magnet, um den technisch korrekten Bildaufbau auf der Mattscheibe künstlerisch zu manipulieren. Nicolai macht nun ein optisch-akustisches Gesamtwerk daraus, ein technisch opulentes Klang-Bild.

In weiteren Installationen wird der Besucher eingebunden. Zwei einander gegenüberstellte, akustisch gelenkte Lautsprecher etwa emittieren sogenanntes weißes Rauschen. Das ist ein höhenbetontes Geräusch konstanter Dichte und wird in der Psychoakustik zur Lärmbekämpfung eingesetzt. Exakt in der Mitte zwischen beiden Schallquellen soll jedoch nichts mehr zu hören sein, da sich die phasengleichen Spiegelbilder, zumindest theoretisch, gegenseitig auslöschen. Ein akustisches Loch liegt im ansonsten mit Schall erfüllten Raum.

Und im vormaligen Hauptsaal der Villa bewegt man sich zwischen zwei hohen, symmetrisch positionierten Spiegelkabinetten auf Parabel-Grundriss. Ein kleiner Lautsprecher im Brennpunkt der einen Geometrie stößt einen rhythmischen Ton aus. Am intensivsten ist er dann im Brennpunkt des Gegenübers zu hören, während er sich in den aufmerksam durchschrittenen Raumzonen dazwischen oder drumherum fast verliert. Man kann natürlich auch einfach nur dem so unmittelbar sinnlichen Knarren des alten Parketts unter den eigenen Füßen lauschen, wenn man so durch den Raum wandelt.

Bettina Maria Brosowsky

Carsten Nicolai Ur-Geräusch: bis 23. 8., Kunstverein Braunschweig; Walk The Line, Neue Wege der Zeichnun: bis 16. 8., Kunstmuseum Wolfsburg