Und dabei das Atmen nicht vergessen – das ist unbedingt wichtig!: Erleuchtung im Alltag
Liebling der Massen
von Uli Hannemann
Auf dem schmalen Uferweg am Landwehrkanal sind Konflikte unausweichlich, man möchte sagen vorprogrammiert. Spatzen, Regenpfützen, Hunde, Fußgänger und Radfahrer ringen mit jeweils eigenen Waffen um jeden Zentimeter begehbaren Bodens. Das weckt Aggressionen, ganz besonders bei uns Fußgängern.
„Immer gleich auf die Fresse. Ohne Vorwarnung.“ Wir kommentieren nun abwechselnd den kessen Stil der entgegenkommenden Radfahrer, von denen allenfalls jeder dritte den Blick überhaupt nur in Fahrtrichtung hebt. „Krankes Schwein.“ „Spitzbube.“ „Blöde Sau.“ „Arschloch.“ „Nazi-Hipster.“ „Volltrottel“. Keiner bleibt ungeschoren. Wir haben richtig Spaß.
Nach einer Weile wird Uzi nachdenklich. Wir sollten vielleicht doch nicht immer solche Sachen sagen, meint sie. Das mache zwar Spaß und diene als vorzügliches Ventil, sei aber irgendwie auf Dauer schlecht für unser Karma. Das glaube sie jedenfalls.
Doch da kann ich sie beruhigen. Denn selbst bei Buddha war immer irgendwann der Punkt erreicht, an dem auch er am Ende ausgerastet ist. Und zwar so richtig. Er war sogar berüchtigt für seine seltenen Ausraster – wenn das Fass denn mal voll war, dann aber ordentlich. Was ja nur logisch ist. Bei ihm hatte sich ja umso mehr angestaut. Denn statt dass er es ab und zu mal rausließ, schluckte er den ganzen Mist zum Teil über mehrere Leben hinweg still herunter. Vernünftig war das nicht. Gekauftes Karma um den Preis der Gesundheit. Psyche, Magen, Blutdruck. Die Karmaindustrie frisst ihre Kinder.
In solchen Momenten brauchte ihm nur ein einziger Radfahrer auf dem von zahlreichen Spaziergängern frequentierten Ganges-Uferweg entgegenzukommen, und er schrie ihn in einer Art ambulanten Blitzerleuchtung tierisch an, trat von der Seite in die Speichen, volle Pulle, bis der Radler stürzte, trat den dann wieder und wieder zusammen, auch gegen den Kopf, gerade gegen den Kopf, versetzte ihm – der sogenannte „Mittlere Weg“ – weitere Tritte in Genitalien, Mund und Magen, solange, bis eine Reinkarnation höchstens noch als wahlweise Brei, Matsch oder Mus in Frage kam, griff sich nun das Rad, riss Sattel, Lenker und Räder ab, zerbeulte den Rahmen durch mehrmaliges Schmettern gegen den „Baum der Weisheit“ bis zur Unkenntlichkeit, und schleuderte das Wrack mit mächtigem Schwung in den Ganges, dass es nur so platschte.
Das hatte aber mal so richtig gutgetan! Scheiß auf die vollkommene Weisheit. Was für eine wohltuende Pause vom unendlichen Mitgefühl mit allem Lebendigen. Das war fast schon Nirvana pur – da konnte die beste Meditation nicht gegen anstinken. Anschließend setzte der Mystiker seinen Weg fort, friedlich, als wäre nichts geschehen und predigte weiter die Lehre der endgültigen Befreiung von Ich-Sucht, Gier und menschlichen Anhaftungen durch Gewaltlosigkeit, Askese und Bescheidenheit.
„Jeder braucht mal eine Pause von seiner Wohlanständigkeit und ein Ventil für seine wahren Empfindungen“, fasse ich zusammen. „Danach kann er sich dann wieder klaglos über die Füße fahren lassen. Und dabei das Atmen nicht vergessen – das ist unbedingt wichtig!“
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