kritik der woche : Neues aus der Text-Maschine
Wenn der Nachwuchs wähnt, nach Walk- und Discman nun auch einen MP3-Stick besitzen zu müssen, weil alle relevanten Freunde ebenfalls einen haben, ist das ein Marketingtriumph. Dass ein solcher Strategien unverdächtiger, antikapitalistisch drauflostheaternder René Pollesch ebenfalls zum Modeartikel geworden ist, den jeder Intendant gern besäße, weil alle relevanten Kollegen ihn ebenfalls im Programm haben, entbehrt nicht der Ironie. Für die Zuschauer hat’s den Vorteil, dass das Produkt, eine Pollesch-Uraufführung, in jeder schicken Theaterboutique von Hamburg bis Wien gleich ausschaut.
Das erst jetzt bedachte Schauspiel Hannover braucht sich daher nicht benachteiligt fühlen: „Menschen im Etui“, das im Ballhof gezeigte Werk, ist Teil einer seriellen Produktion auf Basis der immer gleichen Textmatrix, die nur neu kompiliert, mit flotten Ideologie-Clustern aufgehübscht und tagesschauaktuell modifiziert wird. Diesbezüglich ist jetzt – verspätet – die Visa-Affäre und „Stoiber, die Sau“ dran. Auf einen Plot wird zugunsten des Themas verzichtet: „Wie komplex unser Leben ist, und wie komplex wir das nicht aushalten“, heißt es zum Untergang gefühlter Authentizität und autonomer Subjektivität im Strudel neoliberaler Globalisierung, „dieser Scheiße hier“.
Theoriefetzentheater als Schnipselfeuerwerk, mit dem das Denken aufgesprengt werden soll. Zwischen Kuschelséparée und Plastikblumen-Hundegrab, also im üblichen Pollesch-Kitsch-Szenario, reiten die vier Darsteller – wie gewohnt – auf abstrahierten Rodeo-Sätteln und hetzen der rücksichtslosen Systemanalyse hinterher, die Pollesch, getrieben vom Dämon der Destruktion, aus seinem wütenden Hirn gekratzt und im typischen Sound inszeniert hat: mit Flüster-Zärtlichkeit, den Textfluss interpunktierenden Schrei-Exaltationen und übertourigem Erbrechen komplexer Sätze. Wobei die Souffleuse zur Heldin des Abends wird.
Pollesch beruft sich auf die Philosophiepredigten Giorgio Agambens. Nachdem sich die Welt dem Tauschwert unterworfen habe, ist dort nachzulesen, seien die Dinge wie die Subjekte von sich selbst getrennt; diese Entfremdung gelte es umzukehren durch die Rück-Eroberung eines nur sich selbst genügenden Gebrauchs – wie in den Spielen von Kindern. So wird in Hannover eine gute Stunde auf dem Spielplatz der Worte selbstgenügsam getobt – bis zur Erkenntnis: „Ficken wir uns irgendwas von Bedeutung zusammen! Ja, wir wissen, dass das nicht gelingen wird, aber selbst wenn gar nichts Wertvolles dabei rum kommt, hatten wir doch wenigstens Sex, die Scheiße!“ Jens Fischer
Menschen im Etui, Staatstheater Hannover, ballhofeins, 8., 9., 27. & 28. 11., immer 20 Uhr