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Spinnengleich hinter den Gitterstäben

KINO Das ganze Glück der Filmgeschichte: Beim Festival „Il Cinema Ritrovato“ in Bologna konnte man in diesem Jahr zwei Stunden mit Gott und Anna Magnani abhängen

Die große Hysterikerin des italienischen Kinos: Anna Magnani Foto: ufficio stampa

von Lukas Foerster

Die erste Hitzewelle schlägt einem schon bei der Ankunft auf dem Flughafen Bolognas, auf dem kurzen Weg zwischen Flugzeug und Wartehalle entgegen. Danach wird es jeden Tag einfach noch ein bisschen heißer. Nun gut, könnte man sich denken, man ist eh fürs Filmeschauen angereist und kann sich regelmäßig im Kino abkühlen. Leider hat allerdings ausgerechnet das Cinema Jolly, die wahrscheinlich wichtigste Spielstätte des Cinema Ritrovato, eines von der Cineteca di Bologna organisierten Festivals, das sich auf die Präsentation historischer Programme spezialisiert hat, keine funktionierende Klimaanlage: Im Jolly wird es spätestens ab der zweiten vormittäglichen Vorstellung so glühend heiß wie in dem römischen Frauengefängnis aus Renato Castellanis „Nella città l’inferno“.

Das war eine der größten Entdeckungen diesmal: Wie Anna Magnani, die große Hysterikerin des italienischen Kinos, spinnengleich hinter den Gitterstäben klebt, wie sie in diesem gründlich verschwitzten Psychodrama aus dem Jahr 1959 singt, schreit, flirtet, alles und jeden dominiert; wie sie insbesondere Neuankömmlinge so lange mit ihren Sticheleien bearbeitet, bis auch die alle Hemmungen und alles gutbürgerliche Getue fallen lassen und Teil einer Solidargemeinschaft der Verkommenen werden. Und auch nicht mehr allzu viele Hoffnungen auf die Liebhaber und Ehegatten setzen, die draußen in der Freiheit eben doch nicht lange auf sie warten.

Männer bekommen die Insassinnen sowieso höchstens mithilfe einer komplizierten Spiegelvorrichtung zu sehen, da ist der Aufwand wichtiger als das Ergebnis – interessanter sind sowieso die Dramen, die sich in der Zelle nebenan abspielen.

Wenn man nach der knapp zweistündigen Magnani-Hitzeschlacht aus dem Kino ins glänzende Sonnenlicht eines italienischen Sommertags stolpert, kann man sich gleich danach einen Klassiker des iranischen Kinos ansehen (zum Beispiel Sohrab Shahid Saless’ „A Simple Event“, eine meisterliche Studie in filmischer Reduktion und existenzieller Verzweiflung); oder einen knallbunten japanischen Farbfilm der 1950er (besonders toll: „The Orchard Girls“ von Kajiro Yamamoto, in dem zwei Schwestern vom Land von einer Zukunft in der psychedelisch ausgestalteten Moderne der Großstadt träumen); oder einen sowjetischen Film aus der „Tauwetterperiode” unmittelbar nach Stalins Tod; oder einen italienischen Stummfilm aus den 1910er Jahren, der mithilfe einer antiquierten Kohlenbogenlampe vorgeführt wird und deshalb in besonders atmosphärischem Licht erstrahlt.

Beglückt und überfordert

Das jedes Jahr noch weiter aus­ufernde, von zahllosen Diskussionen und Vorträgen zur Filmgeschichte begleitete Programm auf der einen, die unbarmherzige Hitze (sowie das großartige, aber sehr fette Essen) Bolognas auf der anderen Seite versetzen einen in den Dauerzustand der beglückt-ermatteten Überforderung. Das wiederum ist genau die richtige Voraussetzung für eine Begegnung mit dem Kino Leo McCareys, einem amerikanischen Regisseur, dem die wahrscheinlich schönste Reihe des diesjährigen Festivals gewidmet war.

Begonnen hatte McCarey in den 1920ern bei Hal Roach, dem Meister des Slapstick-Kinos. Mit Stummfilmkomikern wie Charley Chase, Max Davidson oder Laurel & Hardy (deren späteren Weltruhm er mindestens vorzubereiten half) drehte er eine lange Reihe kurzer Lustspiele mit Titeln wie „Should Husbands Be Watched?“ oder „His Wooden Wedding“: gut zwanzigminütige, fröhlich anarchische bis offen asoziale Gag-Paraden, denen der nächste durchgeknallte Einfall stets wichtiger ist als erzählerische oder gar psychologische Kohärenz. Regelmäßig beschließen McCareys ansonsten sympathisch unbekümmerte Bösewichte exakt in der allerletzten Einstellung seiner Filme, dass es jetzt doch gut sei mit der Gesetzesbrecherei und dass man so langsam lieber eine Familie gründen sollte.

Hundebabys und ein ganzer Chor von Straßenkindern sind mit von der Partie in Leo McCareys Film „Going My Way“. Genau das Richtige bei knapp 40 Grad im Schatten: zwei Stunden ab­hängen mit Gott

Mit dem Beginn des Tonfilms wechselt McCarey zum Langfilm und dreht mit den größten Stars seiner Zeit: mit den Marx Brothers, mit Mae West, mit Cary Grant und Irene Dunn (eine der schönsten Komödien der 1930er: „The Awful Truth“). Die Langfilme wirken nur auf den ersten Blick kohärenter — auch sie entstanden weitgehend auf der Basis von Improvisation.

Was mit dem Wechsel zum Ton neu hinzukommt ist ein teils bezaubernd unverschämter Hang zur Sentimentalität, der sich besonders gern in Form von Kindern und Tieren (beziehungsweise verschärft: von Waisenkindern und Tierbabys) manifestiert. Und – vor allem ab den 1940er Jahren – ein mal eher von der katholischen Heilslehre, mal eher von einem paranoiden Antikommunismus befeuertes Sendungsbewusststein.

Schärfer ausgedrückt: In politischer Hinsicht war McCarey ein unverbesserlicher Reaktionär. Seine Filme tangiert das jedoch nur an der Oberfläche: „Going My Way“ könnte man auf den ersten Blick für einen Versuch halten, die Jugend Jesus-Freaks-mäßig wieder auf Religion einzuschwören.

Stattdessen hat Leo McCarey ein relaxtes Impro-Musical gedreht. Es gibt zwar einen jungen Pfarrer (Bing Crosby), der die Pfarrei eines älteren Kollegen auf Vordermann bringen soll. Aber der Film löst sich schnell auf in eine lockere Abfolge von Musiknummern, komischen Miniaturen und melodramatischen Spitzen, die ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Hundebabys und ein ganzer Chor von Straßenkinder sind mit von der Partie. Genau das Richtige bei knapp 40 Grad im Schatten: zwei Stunden abhängen mit Gott.

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