piwik no script img

Alle zwanzig Minuten

SEXUELLE GEWALT Der in Indien verbotene Film „India’s Daughter“ wird in Berlin in Anwesenheit der Regisseurin vorgeführt

Leslee Udwins Dokumentarfilm „India’s Daughter“ geizt nicht mit Zahlen. Und keine von ihnen ist Hoffnung machend. „Alle zwanzig Minuten wird in Indien eine Frau vergewaltigt“, lautet etwa eine, gleich zu Anfang. Delhi gilt in Indien als Gebiet mit der höchsten Rate an Vergewaltigungen. Üblicherweise bekommt man davon nicht viel mit. In Berlin schon gar nicht, und möglicherweise noch nicht einmal in Delhi selbst.

Eine Ausnahme geschah im Dezember 2012, als die Massenvergewaltigung an der 23-jährigen Medizinstudentin Jyoti Singh für weitläufiges Entsetzen sorgte. Der Tatbestand, nach dem die junge Frau nach einem Kinobesuch in einem fahrenden Bus von mehreren Männern brutal misshandelt wurde, man ihr eine Metallstange in die Vagina rammte und sie anschließend aus dem Bus warf, machte nicht nur betroffen, sondern auch wütend. Jyoti Singh verstarb wenige Tage später im Krankenhaus. Eine Protestwelle ging durch Indien. Sie stellte vor allem auch die Frage nach dem Frauenbild des Landes.

Leslee Udwins Film, entstanden mithilfe der BBC, ruft jene Ereigniskette aus dem Jahr 2012 erneut in Erinnerung. Offiziell sollte „India’s Daughter“ am 8. März, dem Weltfrauentag, in mehreren Ländern ausgestrahlt werden. In Indien wurde das verhindert. Ein Gericht hat die Ausstrahlung aus Sorge um die öffentliche Ordnung verboten. Dafür rief die Schauspielerin Meryl Streep in New York zu einem „Awareness-Screening“ auf und verwies darauf, dass Jyoti Singh nicht nur Indiens Tochter sei, sondern unser aller.

Am 30. Juni zeigt das Kino Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz nun Leslee Udwins Film in Anwesenheit der Regisseurin. Dabei zeichnet sich der Film nicht unbedingt durch ästhetische Raffinesse aus. Tatsächlich wirkt es, als habe Udwin ihren Film mit heißer Nadel gestrickt, vielleicht stricken müssen. Was ihn jedoch sehenswert macht, ist die Spannweite, die sie aufmacht. „India’s Daughter“ verharrt nicht bei Singhs Familie und Offiziellen.

Eine der Besonderheiten in Singhs Fall war nämlich die Geschwindigkeit, mit der die indische Polizei die Täter fassen konnte. Von dieser Verfolgung erzählt der Film. Er macht hier aber nicht Halt, sondern besucht einen der Männer im Gefängnis, befragt ihn zum Geschehen. Es ist der Fahrer des Busses, Mukesh Singh, zum Tode verurteilt durch Erhängen. Auch dieses Urteil fließt ein in seine Stellungnahme für den Film.

Sowieso: was im Film gesagt wird. Bei einigen Aussagen klappt es einem leicht die Zehennägel hoch. Mit vollkommener Überzeugung äußern sich einige Strafverteidiger zu Jyoti Singhs „Eigenverschulden“: Wer sich um diese Uhrzeit als Frau auf die Straße begibt und nicht einmal einen Familienangehörigen an seiner Seite hat, ist quasi vogelfrei, so der Usus.

Das ist eine Position, die „India’s Daughter“ abdeckt. Dann ist da das moderne Indien. Und: das arme Indien. Um die Familien der Täter zu interviewen, ist Udwin in Slums gegangen, ins Hinterland gereist. Das sind wichtige Aufnahmen. Sie zeigen, dass nichts im luftleeren Raum existiert.

Babylon, 30.6., 19.30 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen