Neofolk: Pracht soll sich entfalten

Rufus Wainwright wollte sich von der Derbheit Berlins inspirieren lassen. Dann entdeckte er die Romantik und schmiss den Orchesterapparat an.

Mags hübsch plüschig: Rufus Wainwright Bild: Universal

Am 22. Juli 1973 brachte die berühmte kanadische Folksängerin Kate McGarrigle ein Kind zur Welt. Der Vater war der auch nicht ganz unbekannte kanadische Folksänger Loudan Wainwright III, der Sohn bekam den Namen Rufus. 32 Jahre später enthüllte dieser sich den Menschen als schwuler Messias - von den Sternen gefallen, in Sperma getauft. Sicher, "Gay Messiah" war ein Scherz, aber muss sich Rufus als kleiner Junge nicht tatsächlich wie das Kind zweier Gottheiten gefühlt haben? In seinem Alltag gab es keinen Unterschied zwischen den Brettern, die die Welt bedeuten, und der Welt selbst. Er erblickte ihr Licht als Scheinwerferlicht. Das Private war poetisch.

Bis heute hat Wainwright nie versucht, diese Sphären zu trennen. Seine Sexualität, seine vorübergehende Drogensucht, die Liebe zur Mutter und die Hassliebe zum Vater: All das besingt und promotet er wie der prototypische Rap-Star, mit dem er sich auf diese Weise über eine gigantische soziale Kluft hinweg (in der das Bürgertum seine schmutzigen kleinen Geheimnisse hütet) abklatscht. Natürlich träumt Wainwright sich nicht als Gangster, der Regeln missachtet, sondern als Aristokrat, für den sie nicht gelten. "I want to be in Sanssouci tonight", heißt es in einem Text seiner aktuellen, fünften Platte "Release The Stars", in dem er als Besucher des Potsdamer Rokokoschlosses von gespenstischen Visionen vergangener Ausschweifungen heimgesucht wird.

Im Gespräch auf der sonnigen Veranda eines besseren Berliner Hotels schildert Wainwright sich selbst als verhinderten Elendstouristen: "Der ursprüngliche Plan war, ein sehr schlichtes Album zu machen, ohne großen Produktionsaufwand. Deshalb wollte ich Teile der Platte hier in Berlin aufnehmen, ich wollte mich von der Derbheit und Strenge dieser Stadt inspirieren lassen. Aber daraus wurde irgendwie nichts. Mit meinem Freund, der bis vor kurzem noch hier lebte und an der Staatsoper arbeitete, ging ich viel in Konzerte, und wir sahen uns Sanssouci an. Eine Welle deutscher Romantik brach über mich herein, ich kaufte mir sogar eine bayerische Lederhose."

Es half also nichts: Der große Orchesterapparat musste angeschmissen werden. Pracht sollte sich entfalten. Und so bekam etwa der Song "Do I Disappoint You", dessen mantrische Melodie Wainwright zunächst allein zum Synthesizer hatte singen wollen, ein so experimentelles wie überbordendes Arrangement aus Pizzicato-Geigen und schräg dreinfahrenden Bläsern verpasst. Auf "Between My Legs", einer zum Glamrock neigenden Nummer, hört man noch am ehesten das alte, schmutzige Berlin. Ungewohnt cool und rabiat phrasiert Wainwright hier, die Melodie beginnt mit einem stur wiederholten Quintmotiv, nimmt dann Fahrt auf und schlägt Haken, um sich schließlich in einem süßen, hymnischen Refrain aufzulösen. Das sind die großartigen Momente. Andere Songs halten der Spannung zwischen bescheidenem Plan und aufwendiger Durchführung schlechter stand, man bekommt ab und zu das Gefühl, Wainwright habe sich beim Schreiben zu einer Einfachheit gezwungen, die ihm fremd ist, um sie anschließend mit unpassendem Zierrat auszugleichen. Als Beispiel sei hier die weihnachtliche James-Last-Trompete auf "Rules and Regulations" genannt. Insofern ist "Release the Stars" ein Fehlschlag, wenn auch auf schwindelerregend hohem Niveau. Wainwright muss sich am zärtlich ausgeklügelten Bombast seiner Vorgängeralben "Want I" und "Want II" messen lassen, und die gehören zum Genialsten, was im Popzusammenhang je komponiert wurde.

Trotzdem könnte der Gottgleiche mit der aktuellen Single "Going To A Town" seiner Rolle als "Musicians Musician" entkommen, denn es ist bislang seine kommerziellste Auskopplung. Die Hookline "Im so tired of Amerika" spricht genügend Menschen aus der Seele, hier wie in Übersee. Die Melodie kriegt man schlecht wieder aus dem Kopf, und die Chansonhaftigkeit scheint, passend zur USA-Kritik, Europa die Referenz erweisen zu wollen. "Wir alle lieben Amerika", sagt der Kanadier Wainwright zu diesem Thema. "Unglücklich", fügt er hinzu. Der Titelsong am Schluss der Platte führt uns dennoch zurück nach Amerika, so wie Wainwright selbst die eigene Karriere. Die New Yorker Met will nämlich eine Oper von ihm. Ich erschrak erst, als ich das las, aber dann dachte ich: Was McCartney nicht kann, kann Wainwright schon lange.

Rufus Wainwright: "Release the Stars" (Geffen/ Universal)
Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.