Mexiko: Über die fiktive Grenze

Der Mexikaner Poncho bringt zahlenden Gästen bei, illegal die Grenze zu den USA zu überwinden. Dabei erleben sie den Horror einer echten Verfolgungsjagd.

Hinlegen! Nicht bewegen! Der Suchscheinwerfer der Grenzpolizei tastet sich durch die Dunkelheit Bild: andrés r. saslavsky

EL ALBERTO taz Hektisch springt das Scheinwerferlicht von Baum zu Baum. Über die Kronen hastet der grelle Strahl die Böschung hinab ins dunkle Unterholz. Polizeisirenen dröhnen. "Stehenbleiben!", krächzt eine Lautsprecherstimme in holprigem Englisch. "Sie dürfen den Fluss nicht überqueren!" Auf der Brücke bremst scharf ein weißer Jeep, zwischen den Bäumen blinkt das Rot- und Blaulicht eines Streifenwagens. Schüsse fallen. "Hinlegen! Zusammenbleiben!", sagt der Mann mit der schwarzen Wollmaske. "Nicht bewegen!" Der Lichtkegel des Suchscheinwerfers tastet sich knapp über den Körpern durch die Dunkelheit. "Lauft runter zum Ufer, schnell!", befiehlt der Maskierte. Von dort geht es weiter - auf die andere Seite.

El Alberto bei Mexiko-Stadt bietet seit drei Jahren einen Abenteuerpark der besonderen Art. Touristen können hier erleben, wie es ist, illegal in die Vereinigten Staaten zu fliehen. Jeweils am Wochenende können die Gäste diese Nachtwanderung buchen. Die vier Stunden kosten 200 Pesos, umgerechnet 13 Euro. Um den Gästen eine möglichst authentische Szenerie bieten zu können, arbeiten jeweils 68 Dörfler mit - sie spielen Schleuser, US-Grenzpolizisten, Tote oder fahren die Pick-ups. Seit es diese Jobs gibt, verlassen weniger Bewohner den Ort.

"Al otro lado", andere Seite, nennen die Mexikanerinnen und Mexikaner das Land jenseits des Zauns, der die arme von der reichen Welt trennt, Mexiko von den USA. Aber im echten Leben liegen Texas, Kalifornien und Arizona viel weiter entfernt, als die nächtliche Szenerie vermuten lässt. Mindestens tausend Kilometer trennen den kleinen Fluss und das nahe gelegene Dörfchen El Aberto von jener Grenzanlage im Norden. Doch die Einwohner der Gemeinde haben vor drei Jahren diese großartige Geschäftsidee gehabt: eine vierstündige Nachtwanderung, die einen illegalen Grenzübertritt simuliert. Damit locken die Indígenas jedes Wochenende zahlende Touristen aus dem drei Autostunden entfernten Mexiko-Stadt in den Erlebnispark "Eco Alberto".

Heute haben auch Carlos Bautista und Jenny Collin gebucht. Ihr erster Abstieg ans Flussufer endet ziemlich feucht: Bis zu den Waden stehen die beiden Medizinstudenten im Schlamm, und noch immer fahndet das Scheinwerferlicht nach der dreißig Personen starken Gruppe. Ganze Familien haben sich auf den Weg gemacht, in festen Schuhen und Regenkleidung stapfen sie durch die Nacht. Carlos hat die Sache nicht ernst genug genommen, er ist in Badelatschen angetreten. Nun muss er sich barfuß durch den Matsch kämpfen, denn mit den Plastikschuhen kommt er keinen Meter voran. Warum er sich diese Schlammschlacht freiwillig antut? "Aus Abenteuerlust," antwortet der 24-Jährige, "aber vor allem will ich mal erleben, was es für unsere Wirtschaftsflüchtlinge heißt, illegal über die Grenze zu kommen."

Carlos Freundin Jenny denkt bei dieser Aktion eher an ihren Vater. Der hat lange in Chicago gelebt, "aber er hatte eine Arbeitserlaubnis und konnte natürlich legal ausreisen." Anders ist es zweien ihrer Onkel ergangen. "Die mussten sich auch durchschlagen. So wie wir jetzt. Vielleicht noch schlimmer", sagt die 23-Jährige.

Für längere Gespräche bleibt keine Zeit. "Los, los, wir müssen weiter", drängt der Maskierte. Schon taucht oberhalb der Böschung wieder der weiße Jeep auf. "Kommen Sie heraus", bellt die Lautsprecherstimme, "wir wissen, dass sie hier sind!" "Taschenlampen aus!", zischt der Vermummte, der sich Poncho nennen lässt.

Ohne Männer wie ihn geht auch an der echten Grenze nichts. Die "Kojoten" geleiten ihre Klienten, die Flüchtlinge, über die Grenze. Sie wissen, wo im Rio Bravo die seichten Stellen sind, und kennen die Streifenfahrpläne der US-Migrationspolizei. Praktisch alle Dörfer der armen Bundesstaaten Mexikos sind an eine der Schleuserorganisationen angeschlossen: die Sierra Sur von Oaxaca genauso wie die Pazifikküste von Michoacán oder das Umland von Acapulco. Jede Gemeinde hat ihren Ansprechpartner, mindestens tausend Dollar kostet eine illegale Reise in den reichen Norden.

"Wer sich auf diesen Weg macht, muss immer auf Menschen vertrauen, die er nicht kennt und die für ihn kein Gesicht haben", erklärt Poncho. Um das deutlich zu machen, versteckt er sich hinter seiner schwarzen Maske. Auch er hat schon mehrmals die mühselige Reise hinter sich gebracht, wie so viele aus El Aberto. Insgesamt zählt die indigene Gemeinde 2.125 Einwohner, doch nur etwas mehr als ein Drittel von ihnen lebt hier, im kargen Hochland des Bundesstaates Hidalgo. Manche hat es nach Mexiko-Stadt oder in die Grenzstadt Tijuana verschlagen, doch die meisten sind auf die otro lado gegangen. Vor allem nach Las Vegas, Salt Lake City oder Phoenix. Carlos und Jenny, die Touristen, denken nicht einmal daran. Auswandern? "Nein, das steht für mich überhaupt nicht an", sagt Carlos. "Als Medizinstudenten haben wir in unserem Land eine Zukunft."

Der Pulk von Kindern, Männern und Frauen hat mittlerweile eine Straße erreicht. Nach fast zwei Stunden Nachtmarsch zwischen Kakteen, schlammigen Flussufern und steinigen Hängen sind alle erschöpft. In der Dunkelheit stehen vier Pick-ups bereit, um die Wanderer ein Stück weiter zu bringen. Auf den Ladeflächen bleibt ein Moment Zeit zum Verschnaufen. Und zum Reden.

Carlos lebt zwar in der Hauptstadt, er stammt aber aus Oaxaca, jenem Bundesstaat, in dem letztes Jahr ein Aufstand von Lehrern, Indigenen und Linken blutig niedergeschlagen wurde. Der Medizinstudent hat das alles miterlebt, er war zum Praktikum dort. "Klar, die Situation in Oaxaca ist grausam", sagt er. "Trotzdem würde ich nie in die USA auswandern, überall hin, aber nie in die Staaten." Warum? "Der Irakkrieg, die internationale Politik der Regierung, der Rassismus" - es widert ihn an.

Die Freiheit der Wahl hatten die Menschen aus El Aberto bis vor kurzem nicht. "Es war ein mieses Leben hier", sagt Poncho. "Alle sind abgehauen, sobald sie mit der Schule fertig waren." Dann erzählt er von seiner Jugend, von der Zeit, als er immer barfuß gehen musste und in Lumpen gekleidet war. "El Alberto war nicht einmal auf der Landkarte eingezeichnet. Wer hier geboren wurde, war zu einem würdelosen Leben verdammt." Doch das ändert sich gerade. Er schildert die Überraschung, als vor zehn Jahren plötzlich Mineralwasser aus dem Boden sprudelte. Seither geht es bergauf in der Gemeinde der Hñahñu-Indígenas. Gemeinsam haben sie einen Erlebnispark aufgebaut: mehrere Schwimmbecken und Rutschbahnen, ein Restaurant, einen Zeltplatz, kleine Apartments für Wochenendurlauber. Und wer mag, kann den fingierten Nachtmarsch buchen.

Die Hñahñu verwalten ihr Dorf nach traditionellen indigenen Regeln. Danach werden auch die ausgewanderten Angehörigen zur freiwilligen Arbeit herangezogen. Von der Gemeindeversammlung gewählt, kommen sie für ein bis drei Jahre ins Dorf zurück, um kommunale Aufgaben zu übernehmen. Zurzeit ist deshalb Bernadino Bautísta der Bürgermeister, sein Stellvertreter ist Enrique Bolivar. Seit über zwanzig Jahren verdient Bolivar als Bauarbeiter sein Geld im Norden, erst in Phoenix, jetzt in Las Vegas. Regelmäßig kommt er zurück, um seine Familie zu besuchen. Diesmal bleibt er ein Jahr und versieht hier sein Amt. "Wir wollen Arbeitsplätze schaffen, damit die Menschen hier eine Zukunft haben und selbst entscheiden können, ob sie bleiben oder gehen", erklärt er und erzählt, dass die US-Regierung gerade wieder eine neue Mauer zu Mexiko bauen lässt. "Die im Norden wollen uns sowieso nicht mehr", meint er. Dann weist er stolz auf die Maisfelder und Granatapfelplantagen zwischen den Kakteenhainen - "alles wird durch die neue Pumpstation bewässert".

Auch die ungewöhnliche Nachtwanderung, die jeder für 200 Pesos, 13 Euro, buchen kann, soll die heimische Entwicklung fördern. 68 Menschen arbeiten für das jedes Wochenende stattfindende Spektakel, in verschiedenen Rollen: als Kojoten, US-Grenzpolizisten oder in der Verwaltung. Genau vor drei Jahren seien sie das erste Mal losgezogen, erinnert sich Poncho an diesem Abend. Aber selbst bei den mexikanischen Behörden stoße die Initiative auf Unverständnis. Der Vorwurf lautet, der Marsch solle die Teilnehmer für den illegalen Grenzübertritt trainieren. "Das ist völliger Quatsch", meint Poncho, "wir wollen die Menschen darin bestärken, hierzubleiben. Wir sensibilisieren sie für die Risiken, die der Weg auf die andere Seite mit sich bringt."

Unterdessen sind die "Migra", wie die Grenzschützer genannt werden, bedrohlich näher gerückt. Im letzten Moment hechten die Nachtwanderer ins Unterholz. Gebückt sitzen sie da, keiner spricht. Vor dem Gebüsch bleiben zwei in Tarnuniform gekleidete Männer stehen, leuchten hektisch mit ihren Taschenlampen. Plötzlich dringen Schreie durch die Nacht. Man sieht zwei Personen auf dem Boden knien, sie werden geschlagen, gefesselt und abgeführt.

Als wieder Stille herrscht, gibt Poncho Entwarnung. In kleinen Gruppen geht der Marsch weiter: erst die Kinder, dann die Frauen, schließlich die Männer. Am Straßenrand liegt ein leblos wirkender Mann - er soll an die tausende Toten gemahnen, die den Weg auf die andere Seite nicht überlebt haben. Erst Tage zuvor hat die mexikanische Migrationsbehörde gemeldet, dass allein in diesem Jahr schon 210 Menschen an dieser Grenze gestorben sind.

Geschafft! Es ist halb vier Uhr morgens, völlig ermattet sitzen die Menschen bei einer Tasse Kaffee: Carlos, Jenny und die anderen. Große Angst habe sie gehabt, sagt Emma Hernández. Sie ist trotzdem zufrieden: "Ich habe mich getraut." Die 24-Jährige hat mit ihrem fünfjährigen Sohn teilgenommen. "Sein Vater lebt in den USA", erklärt sie, "ich wollte dem Kleinen zeigen, was mit Papa passiert ist."

Auch Carlos Bautista ist zufrieden. "Eine einmalige Erfahrung", findet der Student. Er habe sein Ziel erreicht: "Auch ohne Schuhe habe ich durchgehalten." Für ihn geht es morgen früh gleich weiter. Auf dem Programm steht eine Bootsfahrt. Bei Tageslicht. Es ist schön in El Alberto.

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