: Am Nullpunkt des Wassers
Das Indus-Delta ist eine der fruchtbarsten Regionen Pakistans. Da jedoch 80 Prozent des Wassers am Oberlauf in die Landwirtschaft fließt, gelangt nur salzhaltiges Wasser bis ins Delta.
KETI BANDAR taz In Keti Bandar hat die Zukunft schon begonnen. Sie holt den Besucher ein, noch bevor er die Stadt zu sehen bekommt. An einem Entwässerungskanal zehn Kilometer außerhalb der früheren Hafenstadt im Indus-Delta machen sich zwei Männer an einer Pumpe zu schaffen, mit der sie trübes Wasser in zwei alte Öltonnen abfüllen. 800 Rupien werden sie in Keti Bandar dafür bekommen. Zwei Liter Wasser sind dort so viel wert wie ein Kilogramm Weizen.
Für die Bewohner der Stadt ist dieser Kanal der nächstgelegene, aus dem sie ihr Süßwasser beziehen können. Ein Stauwehr gegen die Gezeiten schützt den Kanal vor dem Tidenhub des Arabischen Meeres. Irgendwo in der Nähe dieser Wasserstelle muss die unsichtbare Grenze zwischen Land und Meer liegen, zwischen Salz- und Süßwasser - und zwischen Leben und Überleben. Das Land ist noch fruchtbar, Bananenstauden sind zu sehen, Schilf, Getreidefelder. Aber die ausgetrockneten Mulden sind bereits mit weißem Schaum überdeckt, den Krusten von Salzkristallen.
Je näher man Keti Bandar kommt, desto mehr schrumpft die Vegetation, bis rechts und links von der Dammstraße nur noch Wattenmeer ist. Der Horizont ist ein in der Hitze flimmernder Streifen. Nichts verrät die sich nähernde Fischerstadt, denn die einstöckigen Häuser kauern hinter einem Erddamm. Endlich in der Stadt angelangt, könnte die Hauptstraße durch jeden x-beliebigen Slum führen, ein langgezogener Basar mit Läden, deren Ware aus den schwarzen Höhlen auf die Straße quillt. Dazwischen tauchen offene Schuppen auf, in denen ein Billardtisch, ein Fußball-Kasten oder ein Brett des Carom-Spiels stehen. Früher war Keti Bandar eine richtige Stadt, heute ist es ein Nest von 1.800 Einwohnern. In dem einzigen Laden mit Schaufenstern reiht sich auf den Regalen entlang der Wände, vom Boden bis zur Decke, das lokale Luxusprodukt: Mineralwasserflaschen, Reihe um Reihe, jede Flasche so teuer wie vier Kilogramm Reis.
Tonnen fruchtbarer Sand
Keti Bandar soll einst die reichste Hafenstadt der Region gewesen sein. Die Einkünfte aus Fischfang und Seehandel erlaubten den Machthabern, der Stadt Karatschi Geld zu leihen. Das fruchtbare Schwemmland des Indus im Rücken machte Keti Bandar gleichzeitig zu einem Reislieferanten für den ganzen Subkontinent. Die Gegenbewegung setzte ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein, als die britischen Kolonialherren den Pandschab - das Fünfstromland - mit einem dichten Kanalnetz durchzogen und die ersten großen Wasserreservoirs bauten. Nach der Unabhängigkeit hat Pakistan diese Verteilung des Wassersegens fortgesetzt und zusätzlich Kraftwerke gebaut. Heutzutage bilden die Kanäle im oberen Sindh und im Pandschab das größte zusammenhängende Bewässerungssystem der Welt. Achtzig Prozent des Induswassers wird abgezweigt und bewässert drei Viertel der Landwirtschaft des Landes.
Doch Flusswasser lässt sich nicht einfach in Kanäle und Felder lenken und dann sich selbst überlassen. Die fehlende Entwässerung der Böden führte zur raschen Versalzung. Bereits 1982 lag das Grundwasser in 95 Prozent des bewässerten Landes nur 2,5 Meter unter dem Boden. Der Salzgehalt nahm jedes Jahr um eine Tonne pro Viertelhektar zu. Unter Führung der Weltbank wurde daher der "Left Bank Outfall Drain" geschaffen, der den Boden entwässerte und das salzhaltige Wasser aus den Grundwasserschichten pumpte und abführte (siehe Kasten). Nach Meinung des Wasserbauingenieurs Asif Rauf Khan war es bereits zu spät. Er hat für die pakistanische Regierung und die Asiatische Entwicklungsbank Gutachten über die Auswirkungen der Bewässerungsprojekte erstellt. Die intensive Nutzung von Induswasser hatte dem Land zwar zu seiner grünen Revolution verholfen. Doch die verringerten Wassermengen und die schwache Strömung im Indus setzten den Schlamm am Oberlauf und in den Stauseen ab, statt ihn ins Delta zu führen.
Die Wasserknappheit in Keti Bandar sticht deshalb so hervor, weil der Ort von Wasser umgeben ist. Er liegt am Hajamro Creek, einem der 17 Arme, in denen sich der Indus ins Meer ergießt. Das Wasser ist hier allerdings längst nicht mehr süß, und die rund 200 Fischerdörfer, die diesen Arm weitere zehn Kilometer in die offene See begleiten, hocken auf Stelzen auf den vegetationslosen Sandbänken. "Darum haben wir so viele Billardtische", sagt unser Begleiter Akhtar Samoo. "In den Dörfern gibt es nichts, womit die Fischer die Zeit totschlagen können." Sie sitzen auf tonnenweise fruchtbarem Schlamm, den der Indus und dessen Zuflüsse aus dem Himalaja hier abgelagert haben. Doch das Meer hat dafür gesorgt, dass nichts mehr wächst. Nicht einmal Mangroven.
Das Delta versalzt
Denn das Meer hat schon lange zur Rückeroberung seines verlorenen Territoriums angesetzt. Gemäß dem jüngsten Zwischenbericht des IPCC-Expertengremiums zum Klimawandel ist in der Küstenregion Pakistans der Meeresspiegel in den vergangenen zwei Jahrzehnten um 17 Zentimeter angestiegen. Daher ist mehr Salzwasser aus dem Meer in das Delta geflossen und hat das fruchtbare Schlammland rasch zerstört. In den vergangenen zwanzig Jahren soll der aktive Teil des Deltas von 2.000 Quadratkilometern auf ein Zehntel dieser Größe geschrumpft sein.
Nirgends zeigt sich die Landnahme des Meeres deutlicher als in Keti Bandar. Der armselige Ort hat nichts mehr mit der früher reichen Hafenstadt gemein. "Ihre Überreste liegen auf dem Meeresgrund, 15 Kilometer vom heutigen Standort entfernt", sagt Hote Khan Jamali, ein Mitarbeiter des WWF Pakistan, der in Keti Bandar ein Büro unterhält. Zwischen dem heutigen Ort und der alten Hafenstadt stand bereits einmal eine Rückzugssiedlung gleichen Namens, bevor auch sie aufgegeben wurde und die Stadt am heutigen Standort landete. Der Trinkwasserladen mit seinen teuren Flaschen zeigt, dass es keine sichere Landung war.
Keine Arbeit ohne Wasser
Der Staat hat bereits kapituliert. Die Schulen werden von islamischen Wohlfahrtsorganisationen geführt, das kleine Krankenhaus ist leer, obwohl zahlreiche durch Wasser übertragbare Krankheiten wie Durchfall, Malaria, Typhus und Gelbfieber die Bevölkerung quälen. Eine langgezogene Markthalle wurde gar nicht mehr zu Ende gebaut. Lediglich Hilfsorganisationen wie ActionAid und WWF versuchen noch, den Frauen Einkommensmöglichkeiten zu schaffen. Sie verkaufen Trinkwasser oder flicken Fischernetze, was früher ausschließlich die Männer machten. Heute gilt diese Arbeit als zu schäbig für Männer, denn Fischer sind die großen Verlierer im Delta. Die Frauen züchten mit Hilfe der Organisationen auch Makrelen und Hühner anstatt wie früher Garnelen. Diese lukrative Zucht ist eingegangen, da die Mangrovenwälder in den Dhands - dem Sumpfgebiet aus Süß- und Salzwasser - verschwunden sind. Die Männer haben sich inzwischen als Arbeiter auf den großen Kuttern verdingt, die vor dem Delta ihre Tiefwassernetze ziehen. Die Frauen, die sich im WWF-Büro für ein Treffen versammelt haben, haben geschworen, Keti Bandar nicht zu verlassen. "Bis wir untergehen", sagt Sayeda Balawatti, die Frauenbeauftragte von ActionAid, trotzig. Doch im Gespräch wird klar, dass die ständige Verteuerung des Trinkwassers sie schließlich doch zwingen wird, nach Keti Bandar Nummer 4 oder vielleicht in einen Slum nach Karatschi zu ziehen. Akhtar Samoo drückt es so aus: "Wasser ist das Wichtigste. Unser Leben hängt davon ab, nicht nur das der Fische."
Gefahr für die Delta-Bewohner kommt aber nicht nur vom Meer, sie kommt auch vom Land - und vom Klima, denn die Niederschlagsmuster haben sich verändert. In den Jahren 1998 und 1999 führte der Indus Hochwasser, und die Reservoire am Oberlauf, auch als Ausgleichsbecken gedacht, konnten die Wassermassen nicht mehr stauen. Deren Becken sind inzwischen so stark versandet, dass sie nur noch einen Bruchteil der ursprünglichen Kapazität speichern.
Das schnell voranschreitende Schmelzen der Himalaja-Gletscher, die 70 bis 80 Prozent der Indus-Wassermenge liefern, hat diese heftigen saisonalen Ausschläge noch verstärkt. 20 bis 30 Prozent der Flusswassermenge stammen aus Niederschlägen. Zwischen 2000 und 2002 erlebte Pakistan eine dreijährige Trockenheit, bis ein Jahr danach heftige Regenfälle am Oberlauf mit einem Zyklon im Mündungsgebiet zusammenkamen. Doch anstatt dass die Kanäle die Wassermassen abführen, strömte durch die Kanäle das Meerwasser tief in das Delta hinein. Stauwehre und Erddämme gaben dem Druck nach und barsten, Salzwasser floss ins weitverzweigte Netz der Entwässerungskanäle und kontaminierte das Grundwasser. Mehrere tausend Bauern und Fischer mussten in die Stadt Badin fliehen - das erste Symptom einer Bewegung, die in der Flucht beginnt und in der Umsiedlung endet.
Das idyllische Bild, das sich dem Besucher an einem späten Nachmittag beim Teestand von Shekhani Garhi bietet, täuscht. Ein Dutzend Bauern sitzen unter einem Neem-Baum auf Pritschen und schlürfen Tee, hinter ihnen ein großer Kanal voll Wasser, über den der Blick auf das "Rann of Kutch", die Nasswüste, geht, in der irgendwo die indisch-pakistanische Grenze verläuft. Die üblichen Macho-Symbole im Habitus der Teehausgäste - breite Schnauzbärte, buschige Augenbrauen, Turban, Stock - passen schlecht zu ihrer niedergeschlagenen Stimmung. Die Männer sitzen still, murmeln höchstens zustimmend, wenn der achtzigjährige Patriarch Nato Khan zu seiner Wehklage ansetzt. Es ist eine Geschichte von verlorenem Landbesitz, verdorrten Äckern, brackigem Wasser - und Erinnerungen ans Paradies.
In den 1930er-Jahren hätten hier tausendköpfige Herden, von weit her kommend, ihr Weideland gefunden, "und ein Morgen Land brachte 1.600 Kilo Weizen". Heute besitzt Khan statt wie früher hundert Büffeln nur noch einen - und auch diesen muss er noch mit einem andern Bauern teilen. "In meinem Weiler gab es über hundert Haushalte. Heute sind es noch sieben. Die nächste Schule ist vierzehn Kilometer weit weg."
Kanal am Point Zero
Die Schuld dafür trägt in den Augen der Bauern der Entwässerungskanal hinter ihnen. Der Teeladen liegt am "Point Zero", dort, wo sich früher der LBOD-Abfluss im Moor des Padeji-Dhand entleerte und damit den Nullpunkt des Kanals markierte. Doch dann wurde im Rahmen des "National Drainage Program" der Kanal noch einmal 42 Kilometer weiter bis ins Meer geführt. "Auch außerhalb des Monsuns kommt an drei Tagen im Monat das Meerwasser bis hierher", sagt Nato Khan. Und sollte es in diesem Jahr "weiter oben" wie schon 2003 wieder hohe Niederschläge geben, "sehe ich eine Katastrophe kommen".
Auf der anderen Seite des Kanals werfen Traktoren Land über die Erddämme. Die Bauern wissen nicht, dass sich der Meeresspiegel bereits um 17 Zentimeter erhöht hat. Aber sie spüren die Folgen. "Seht, sie verstärken den Damm", sagt Nato Khan. "In zwei Monaten beginnt der Regen. Und wenn das Hochwasser wie vor vier Jahren wieder vom Meer kommt, ist so viel Salzwasser im Boden, dass wir hier ganz aufgeben können. Denn nun kommt mit dem Regen auch die Flut."
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