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die wahrheitSehen ohne Brille

Und? Was machst du so?", fragte ich einen Kumpel, während wir nachts vor der Kneipe standen und die Flasche Pfefferwodka rumgingen ließen, um die Penner an der U-Bahn-Station neidisch zu machen...

"Und? Was machst du so?", fragte ich einen Kumpel, während wir nachts vor der Kneipe standen und die Flasche Pfefferwodka rumgingen ließen, um die Penner an der U-Bahn-Station neidisch zu machen. Sehen ohne Brille, antwortete er. Seine Augen, die normalerweise von zerkratzten Monatslinsen verdeckt stumpf-tümpelfarben schimmerten, strahlten mich linsenlos in Grasgrün an. "Wo bin ich?", testete ich und sprang behänd neben ein Stoppschild. Aber mein Kumpel deutete ohne Zögern auf meine Stirn und sagte: "Einskommadrei Zentimeter neben deiner linken Braue verstopft sich gerade eine Pore."

Ich muss mir auch unbedingt die Augen lasern lassen. Man hört ja nur Gutes. Aufwachen und einfach sehen! Beim Duschen auf den Boden der Kabine gucken und Dreckklümpchen nicht mehr mit zappelnden Käfern verwechseln! Aus Jux Partylinsen mit Dollarzeichen drauf einsetzen, wenn man zum Geldautomaten geht! Mitten in der Nacht von Schüssen geweckt werden und der Polizei später die sekundengenaue Uhrzeit nennen, weil man gleich auf den Leuchtwecker schauen konnte! Was das ausmacht, allein forensisch! Ich machte mir eine mentale Notiz: "Sehen ohne Brille", die mich daran erinnern sollte, am nächsten Tag billige Auslandsflüge zu checken.

Doch am Morgen hatte ich die mentale Notiz vergessen, weggesoffen, und zermarterte mir das Hirn: Was wollte ich recherchieren? Irgendwas ohne irgendwas? Ich musste an den Witz denken, in dem einer ellenlange Korridore eines verlassenen Hauses durchläuft, um den Kurs "Kochen ohne Fett" zu finden, und dann ein Zimmer voller kopulierender Paare entdeckt und der Kursleiter sagt: Nee, hier ist Stricken ohne Wolle. Oder Fechten ohne Blut? Macht meine Freundin neuerdings: Sie trifft sich mit ein paar Verrückten und spielt Errol Flynn. "Theaterfechten" nennt man es auch, und im Gegensatz zum echten Fechten, bei dem man sich lieber die Hände abhacken würde, bevor man dem Fechtpartner sagt, wo man gleich fatal hinpiekt, sind hier alle Bewegungen auschoreografiert, und so lässt man ständig Degen durch die Gegend segeln und pinnt sich mit einem charmanten "Ha-haaaa!" an der Wand fest. Stell ich mir vor. Aber wollte ich da mitmachen, mit diesen bekloppten Perücken? Wo meine letzte Perückenerfahrung doch ziemlich frustrierend war, denn als gesichtsalte Blondine hat man keineswegs mehr Fun.

Ich setzte die Brille auf, um meine Taschen nach Hinweisen auf die Themen des Abends zu durchforsten. Da fiel es mir wie Schuppen von den Klüsen. Die Augen! Die Poren! Die Billigflieger! Die OP! Aber wie bei Schnapsideen üblich, erschien mir die Geschichte plötzlich zu gefährlich. So ein Auge ist ein wichtiges Organ. Man stelle sich nur mal vor, da in Russland oder der Ukraine wird gerade gewählt, während ich ins Lasermesser starre. Und vor Freude über die 109 Prozent schmeißt der Gazprom-Direktor sein Wodkastamperl auf den Hauptschalter …

Ich humpelte ins Bad, spendierte meinen Linsen eine Extra-Proteinentfernerlösung und ließ sie auf den nackten, fehlsichtigen Augapfel schnellen, dass es schmatzte. Sehen ohne Brille. Pah. Bleib ich halt beim Trinken ohne Verstand.

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