Ruhrfestspiele Recklinghausen: Falsch verliebt im Licht der Diskokugel

Jan Bosse inszeniert "Anna Karenina" nach Tolstois Roman bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen mit Everybodys Darlings Fritzi Haberlandt und Milan Peschel.

Weiß gekleidete Menschen streifen durch schöne Landschaften. Bild: dpa

Weiß gekleidete Menschen streifen durch schöne Landschaften, tanzen beschwingt auf Bällen und wälzen sich liebend im Gras. Es fehlt eigentlich nur noch das Birkenwäldchen, dann wäre das russophile Kitscharsenal komplett, das dem Personal in Jan Bosses Dramatisierung von "Anna Karenina" per Videoeinspielung übers Gesicht flimmert. Wer derart vorgestanzten Klischees nachhängt, muss sich über das Scheitern seiner Sehnsucht eigentlich nicht wundern.

Als Koproduktion mit dem Berliner Maxim Gorki Theater bringen die Ruhrfestspiele Lew Tolstois Roman auf die Bühne. Im Zentrum steht die titelgebende Ministersgattin, die sich von Mann und Kind trennt, um mit dem leidenschaftlich geliebten Wronski zusammenzuleben. Kontrastiert mit zwei weiteren Ehen, wird daraus ein Panorama der bürgerlichen Gesellschaft zwischen Religion, Militär, Politik und Landwirtschaft, zentriert um die Frage nach der Verwirklichung individuellen Glücks in und außerhalb der Familie.

Regisseur Jan Bosse macht daraus den lähmenden Beziehungsreigen einer heutigen urbanen Jeunesse bourgeoise. Die genervte Dascha stapelt Umzugskisten, nachdem ihr prollig-dandyhafter Ehemann Stefan mal wieder fremdgegangen ist. Lewin holt sich von der jungmädchenhaften Kitty eine Abfuhr. Aus Frust beklebt er die Wände mit einer Waldfototapete, während sie im Schein einer Zimmerdiskokugel von Wronski tagträumt. Der gräfliche Schönling wiederum fällt Anna quasi durch die Zimmerdecke vor die Füße, während deren biederer Ehemann Karenin im Bürosessel hockt.

Bosses junge Liebende sind Einsame und Versprengte. Nicht nur, weil die Textfassung von Armin Petras den gesellschaftlichen Resonanzraum um die Figuren wegschneidet und sie so in die Immanenz ihrer Gefühlswelten einsperrt. Bühnenbildner Stéphane Laimé hat für die Zechenhalle in Marl einen Setzkasten aus Wohnwaben unterschiedlicher Größe entworfen, der von gesellschaftlicher Atomisierung und Kommunikationslosigkeit erzählt. Tolstois groß orchestrierte Gefühlspartitur wird heruntergerechnet auf einen Flapsigkeitsjargon, den man aus Fritz Katers, vulgo Armin Petras Stücken kennt.

Vor allem Fritzi Haberlandt als Anna pflegt ausgiebig ihren schnoddrigen, pragmatisch-imprägnierten Jungmädchenton, der gegen jede Leidenschaft immun ist. Dass sie dem spirrelig-nervösen Wronski des Milan Peschel verfällt, der sich als Säufer geriert und krähend herumkobolzt, verlangt schon einiges an Fantasie. Allerdings ist er derjenige, der an den Waben entlangturnen darf, sich mit Karenin durch die Wände prügelt und dann auch noch die Zuschauer anraunzt.

Solche Momente sind allerdings selten, über der Aufführung liegt der Mehltau einer pseudoexistenzialistischen Melancholie, unterstützt durch molllastige Musikschleifen. Man parliert von Wabe zu Wabe und redet in den nach vorn gesprochenen Erzählpassagen über sich in der dritten Person. Die reflexive Überlast ist groß, die Sehnsucht nach emotionaler Unbedingtheit auch. Dreieinviertel Stunden beklagen die Figuren die Flüchtigkeit und Unbegreifbarkeit der Gefühle. Doch bereits vor der Pause hat die Inszenierung ihr Potenzial ausgeschöpft. Die Leerstelle in Annas Schlusssatz "Liebe ist …?" ist letztlich auch die der Inszenierung.

Mit "Anna Karenina" setzen die Anfang Mai begonnenen Ruhrfestspiele ihren Weg als Produktionsfestival zwar fort, doch die Bilanz zur Halbzeit fällt zwiespältig aus. Die Experimentierlust des vergangenen Jahres scheint dem alten Populismus gewichen. Das diesjährige "Amerika"-Thema verschmäht nicht nur junge Autoren, sondern setzt mit den Dramatikern ONeill, Miller, Williams und Sam Shepard auf Klassiker - auch wenn die Regisseure Andreas Kriegenburg oder Thomas Ostermeier heißen.

Hollywood-Schmankerl durften dabei nicht fehlen: So war David Mamets schwachbrüstiges "Speed the Plow" immerhin mit Kevin Spacey besetzt. Cate Blanchett kam als Regisseurin und ihre Interpretation von Ravenhills Pädophilenstück "Blackbird" überzeugte mit ihrer emotionalen Vehemenz. Doch unverwechselbar ist das Profil der Ruhrfestspiele, die Frank Hoffmann im vierten Jahr leitet, immer noch nicht geworden.

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