Nahrungsmittelkrise in Russland: Brot für Arme auf Bezugsschein

Angesichts galoppierender Lebensmittelpreise plant Russlands Regierung ein "Nahrungsmittel-Sicherheitsgesetz".

Verkauf von aus den USA importiertem Hühnerfleisch auf einem Moskauer Markt. Bild: ap

MOSKAU taz Russlands Verbraucher stöhnen. Die Folgen der weltweiten Nahrungsmittelverknappung haben jetzt auch Moskau erreicht. Zwar ist die Auswahl an Konsumgütern so groß wie nie zuvor in der russischen Geschichte. Bedenklich jedoch ist die rasante Inflation. Im April stiegen die Grundnahrungsmittelpreise um 6,4 Prozent, in Europa waren es im Vergleich 1,8 Prozent.

Mehr als 40 Prozent der Russen halten die explodierenden Lebenshaltungskosten für das größte nationale Problem. Bislang gaben die ärmsten 20 Prozent der Bürger 60 Prozent des Einkommens für Verpflegung aus. Sie werden jetzt noch tiefer in die Tasche greifen müssen.

Um sozialen Unruhen vorzubeugen, schlug Agrarminister Alexei Gordejew vor, ein "Nahrungsmittel-Sicherheitsgesetz" zu verabschieden. Es sieht eine Preisregulierung für Grundnahrungsmittel vor und plant, die Subventionierung des Agrarsektors um ein Vielfaches anzuheben. Zudem sollen auch Lebensmittelkarten für die Ärmsten eingeführt werden.

Präsident Dmitri Medwedjew macht für die Preisentwicklung die globale Nahrungsmittelkrise verantwortlich. Was der Kreml verschweigt: Die Zuspitzung ist auch der Vernachlässigung des heimischen Agrarsektors und der mangelnden Konkurrenzfähigkeit der Landwirtschaft geschuldet.

Russland gehört zu den größten Lebensmittelimporteuren der Welt. 46 Prozent aller Lebensmittel und landwirtschaftlichen Güter werden eingeführt. Auch die weiterverarbeitende Industrie greift auf ausländische Rohstoffe zurück. In den Metropolen erreicht die Abhängigkeit von Importen sogar 85 Prozent. Drei Viertel des landesweit verbrauchten Fleischs und die Hälfte des Pflanzenöls stammen aus dem Ausland. Das macht Russland sehr anfällig für die Folgen des weltweiten Defizits.

Zwar stieg der Lebensstandard durch den Petrodollarsegen in den vergangenen Jahren erheblich. Zwischen 2000 und 2006 wuchsen jedoch auch die Agrarimporte um das Dreifache. Die Tendenz setzt sich fort. Den Hauptgrund sehen Experten im anhaltenden Verfall des Agrarsektors. Russische Bauern produzieren heute nur noch halb so viel Fleisch und Milch wie 1990. Um die steigende Nachfrage trotz höherer Preise zu befriedigen, senkte Russland überdies die Importzölle. Die Bauern zürnen, denn die heimischen Waren büßen zusätzlich an Konkurrenzfähigkeit ein. Langfristig läuft Russland Gefahr, die für die Entwicklung nationaler Projekte vorgesehenen Petrodollar für Importe ausgeben zu müssen.

Die niedrige Ertragsquote der Landwirtschaft erscheint auf den ersten Blick unverständlich. Immerhin verfügt Russland über 55 Prozent der fruchtbarsten Schwarzerdeböden der Welt. Die Probleme liegen nicht in der Qualität der Anbauflächen. Der ländliche Bereich leidet an einem Arbeitskräftemangel, und es fehlt eine moderne Infrastruktur. Vor allem steht den Bauern immer noch kein transparentes Kreditwesen zur Seite. Das wäre eine Grundvoraussetzung für erfolgreiches Wirtschaften, da die Landwirte im Vergleich zu europäischen Kollegen kaum Subventionen beziehen.

Gleichwohl hängt der Produktionsrückgang auch mit gestiegenen Bodenpreisen zusammen. Banken und Konzerne vertreiben Bauern von ihrem Land oder zwingen Betriebe, Boden zu Schleuderpreisen zu verkaufen. In der Nähe großer Städte wird der Ackerboden zu Bauland und verspricht riesige Gewinne. In den letzten drei Jahren wurden mehr als 11.000 Staatsbetriebe und Kolchosen in den Bankrott getrieben. 13.000 Dörfer stehen leer, und an die 50.000 Siedlungen sind so gut wie entvölkert.

Gegen die illegale Vertreibung hat sich eine Bewegung formiert, die "Bauernfront". Vorsitzender Dmitri Larionow hält die Enteignungen für ein "nationales Projekt, das die volle Unterstützung der politisch Verantwortlichen genießt". Russland hat nicht nur ein Sicherheitsproblem.

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