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Filmemacher Harun Farocki über das KZ Westerbork"Bilder wie eine Flaschenpost"

Diese Aufnahmen von 1944 über das KZ Westerbork sind eigentlich für niemanden gemacht worden, sagt Harun Farocki. Der Berliner Filmemacher hat die Origninal-Aufnahmen für einen Essay genutzt.

Gedenkfeier im KZ Westerbork. Das KZ war ein Durchgangslager. Von hier aus wurden die niederländischen Juden in die Vernichtungslager in Nazi-Deutschland oder in Polen geschickt. Bild: ap

taz: Harun Farocki, "Aufschub" zeigt Alltagszenen aus dem Lager Westerbork. Was war das Besondere dieses Lagers?

Harun Farocki: Westerbork liegt in einer entlegenen Gegend der Niederlande, dem Sibirien Hollands, wie es heißt. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 wurde es ein Durchgangslager für Juden, aus dem wöchentlich Transporte in die Vernichtungslager im Osten abfuhren. Das Besondere ist, dass in dem Lager nicht geschlagen und gefoltert wurde. Kein Insasse wurde in Westerbork ermordet. Das Lager war, verglichen mit anderen KZs, zivil.

harun farocki filmproduktion

HARUN FAROCKI, 64, lebt in Berlin und ist Filmemacher und Autor. Er hat mehr als 90 Filme realisiert, unter anderem "Leben - BRD" (1990), "Gefängnisbilder" (2000) und "Die Schöpfer der Einkaufswelten" (2001). Donnerstag, den 3. Juli 2008 stellt er "Aufschub" (2008) in Berlin vor. Hegelplatz 2, Hörsaal 1.101, 19.00 Uhr.

Westerbork

Westerbork war ein KZ in den Niederlanden, von dem aus Juden in die Vernichtungslager im Osten transportiert wurden. 1944 drehte dort ein Gefangener, der jüdische Kameramann Rudolf Breslauer, im Auftrag des KZ-Kommandanten einen Film über das Lager. Dieser Film blieb ein Fragment. Die Bilder sind außergewöhnliche Dokumente, weil kaum Filmbilder aus KZs existieren, die vor der Befreiung 1945 aufgenommen wurden. Der Berliner Regisseur Harun Farocki hat aus diesem Material einen 40-minütigen Film mit dem Titel "Aufschub" montiert, der die historischen Bilder mit klugen, kommentierenden Texttafeln kombiniert.

Die Filmaufnahmen, die 1944 der Häftling Rudolf Breslauer machte, zeigen verschiedene Orte des Lagers. Einen Zahnarzt, eine Wäscherei, Landwirtschaft, eine Werkhalle und Zerstreuungen wie ein Fußballspiel und eine Varieté-Veranstaltung. Die Bilder entwerfen also eine Stadt. War das Lager Westerbork eine Stadt - oder die Karikatur einer Stadt?

Die Karikatur einer Stadt - denn es war ein Durchgangslager nach Bergen-Belsen, Theresienstadt und Auschwitz. Eine Stadt definiert sich ja oft in Abgrenzung zur Gefahr, aber diese Stadt war dazu da, die "Einwohner" in die Gefahr, in den Tod zu stoßen. Westerbork hatte einen hohen Organisationsgrad. Das Krankenhaus war zeitweilig das größte in den Niederlanden. Und es gab eine eigene Abteilung für Dokumentation und Grafik. Dort wurde ein Modell des Lagers aufgestellt, damit Besucher sich sofort einen Eindruck verschaffen könnten. Auch der Film war dazu gedacht. Heute würde man sagen: ein Besuchszentrum mit audiovisuellen Hilfsmitteln. Das Lager hatte sogar ein eigenes Firmenlogo. Und eine Grafik zeigt, wie viele Gefangene "in den Osten" deportiert wurden, wie viele nach Theresienstadt.

Diese Grafik zeigt das Lager als Produktionsort - nur, dass keine Schrauben hergestellt werden, sondern Deportationen. War diese Grafik ein Versuch, Normalität zu simulieren?

Sicher ist das eine Distanzierung. Man sagt: "in den Osten" und will den Namen des Vernichtungslagers nicht ausgesprochen haben. Bei so viel Betrieb ist die wöchentliche Deportation ein Nebenumstand. Und wie jede Behörde oder jede Firma mal gerne ihr Organigramm vorstellen will, so wollte die SS zeigen, wie gut das Lager funktioniert. Die SS-Männer in den Niederlanden fürchteten 1944 wohl, dass das Lager aufgelöst werden könnte - und sie an die Ostfront gemusst hätten.

Es gibt eine Szene, die in "Aufschub" zweimal wiederholt wird. Ein Transport fährt ab nach Auschwitz, und ein Gefangener hilft von innen, die Waggontür zu schließen …

Die Tür hakt, der Gefangene hilft, die Tür zu schließen. Der Kameramann hat diese Geste offenbar gar nicht bemerkt, aber dokumentiert. Diese Geste fasst das Drama des Lagers zusammen: die Kooperation der Opfer bei ihrer eigenen Vernichtung. Der Historiker Raul Hilberg hat herausgestellt, dass es kein Budget für die Vernichtung der Juden gab. Ihre Vernichtung wurde aus ihrer Ausplünderung finanziert. Sie mussten ihre Ermordung bezahlen und mit organisieren. Dies ist in dieser Geste enthalten.

Wussten die Gefangenen, was Deportation bedeutete?

Vage. Es gab das Gerücht, dass im Osten Städte für Juden gebaut werden. Aber warum wurden dann auch Alte deportiert? Andererseits gab es das Krankenhaus in Westerbork - wenn Gefangene behandelt wurden, dann war es doch unwahrscheinlich, dass sie ermordet werden sollten. Der Name Auschwitz war bekannt, die industrielle Massentötung nicht.

Wie viele Juden sind von Westerbork in die Vernichtungslager deportiert worden?

Etwa 100.000. Fast alle holländischen Juden.

In Belgien gab es keine so enge Kooperation der Judenräte mit den Nazis wie in den Niederlanden. Dort haben weit mehr Juden überlebt.

Hannah Arendt hat die Tragödie in den Niederlanden damit erklärt, dass gerade weil die Niederländer viel Zivilcourage beim Schutz der Juden zeigten, die Nazis vorsichtig ans Werk gingen. Weil sie vorsichtig sein mussten, waren sie so effizient. Das erklärt nicht alles, aber etwas.

"Aufschub" versucht die Bilder zu lesen. Die Aufnahmen der Feldarbeit sehen fast so aus wie in zionistischer oder kommunistischer Propaganda …

Ja, auf diesen Zusammenhang weise ich im Kommentar auf einer Schrifttafel hin. Eine Szene zeigt Frauen, die Ziegelsteine entladen - gefilmt aus Untersicht und gezeigt in Zeitlupe. Die Untersicht zielt auf eine Pathetisierung von Arbeit. Solche Bilder gibt es auch im zionistischen und kommunistischen Film. Es gibt sie bei Leni Riefenstahl und Vertov. Und auch im Film des New Deal, etwa bei Frank Capra.

Gab es denn Zionisten unter den Inhaftierten?

Ja, durchaus. Breslauers Bilder der Arbeit an Maschinen und beim Recyceln sind eher traurig - aber die Landwirtschaftsbilder haben eine Aufladung, eine Identifikation. Vielleicht auch nur, weil die Arbeit an der frischen Luft angenehmer ist als in der Enge des Lagers.

"Aufschub" besteht aus dem Bildmaterial und aus Kommentaren, die diese Bilder deuten, kontextualisieren. Warum diese Beschränkung? Warum kein anderes Bildmaterial, etwa aus KZs nach der Befreiung?

Weil man die historischen Bilder ernst nehmen muss. Diese Bilder werden im TV oft stark kompiliert. Dabei verlieren sie ihren Wert als Dokument. Das Kompilieren - was ja ein seriöser Begriff für Plündern ist - hat gerade bei Aufnahmen aus KZs dazu geführt, dass niemand mehr weiß, was dies für Bilder sind: Sind sie nachinszeniert? Sind es Spielfilmbilder? Wer hat sie warum gedreht? Auch deshalb habe ich nur Bilder aus Westerbork verwendet. Und versucht, diese Bilder in Wiederholung so anzureichern, dass sie lesbar werden. Heute, fast 70 Jahre danach, kommt es darauf an, das Material zu studieren und nicht die Bilder als Belegmaterial für vorgefasste Reden zu nehmen.

Was heißt vorgefasste Reden?

Es gibt ja eine Grundform historischer Dokumentationen, die man so persiflieren kann: Straßenschlachten, 1933, SA zieht am Reichstag vorbei, Riefenstahls Parteitagsfilm, dann Kriegsbilder, ein KZ-Bild - fertig. Das ist wie eine Gebetsmühle. Die Botschaft solcher Kompilationen ist: Es war irgendwie schlimm, aber man muss gar nicht mehr hingucken. Gerade wenn bewiesen werden soll, wie schlimm es war, werden die Bulldozer gezeigt, die nach der Befreiung die Leichen in dem KZ Bergen-Belsen wegschaffen.

Soll man die nicht zeigen?

Doch, aber nicht gedankenlos. Als Alain Resnais 1958 in Auschwitz "Nacht und Nebel" drehte, wählte er Fotos von Opfern aus, die er in den Film nehmen wollte. Und fragte sich: Was mache ich denn? Eigentlich ist das ja auch eine Selektion. Man muss also fragen, wie man Opfer zeigt. Im Krieg zeigt man gewöhnlich nur Bilder vom toten Feind. Man zeigt keine identifizierbaren Gesichter von eigenen Toten. Das gilt für die gesamte Kriegsfotografie. Tote sind immer die fremden Toten. Vielleicht haben die Alliierten, die 1945 die Lager befreiten, die Opfer für Fremde gehalten und nicht für die Eigenen. Wenn man nun immer wieder diese Toten zeigt, dann bleiben sie die fremden Toten. Sie sind in diesen Bildern nur Belege, keine Subjekte.

Diese Bulldozer-Bilder sind eine Entwürdigung.

Ja, es gibt aus Bergen-Belsen auch Bilder, die zeigen wie KZ-Wächter die Leichen in eine Grube werfen. Das ist offenbar eine Strafe - die Körper der Opfer sind also eine Ekelstrafe für die Täter. Das Bulldozer-Bild sagt: Die Opfer sind ein hygienisches Problem. Deshalb müssen ihre Körper schnell verschwinden. Diese Botschaften sind in den Bildern enthalten.

"Aufschub" hat keinen Ton, keine Musik. Warum?

Weil es in dem Material keinen Ton gibt. Und weil Töne auch Dokumente sind. Wenn ich zum Beispiel in Marcel Ophüls "Le Chagrin et la pitié" NS-Wochenschaubilder vom Einmarsch der Deutschen in Frankreich sehe und dazu aus dem Synchronstudio die Marschschritte höre, dann wird mir diese absurde Fälschung bewusst.

Und warum keine Musik?

Ich finde Musik auch in Spielfilmen fasst immer billig.

Die Westerbork-Bilder hat Rudolf Breslauer gedreht, der danach in Auschwitz ermordet wurde. So wie Kurt Gerron, der in Theresienstadt 1944 einen Film für die Nazis drehen musste und danach ermordet wurde. Wie verhalten sich der Westerbork- und der Theresienstadt-Film zueinander?

Der Theresienstadt-Film ist eindeutig Propaganda. Das Material von Breslauer ist ambivalenter, schon weil es Rohmaterial ist. Es gibt zum Beispiel einen Zwischentitel, der für den Film vorgesehen war: "Seit zwei Jahren immer wieder das gleiche Bild: TRANSPORT." Schwer zu glauben, dass dieser Zwischentitel, der wie eine Flaschenpost wirkt, in dem Film geblieben wäre, wenn dieser fertig geschnitten worden wäre. Breslauer hat den Film für Besucher des Lagers gemacht. Also eigentlich für niemanden.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE & CHRISTIAN SEMLER

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