Gebändigte Natur: Natur ist anstrengend!

Mitteleuropas Flusslandschaften sind keineswegs die letzten Dokumente einer einstmals heilen Natur, sondern von Menschenhand geformt.

Eine Märchenlandschaft: Der Neckarbogen zwischen Mundelsheim und Hessigheim. Bild: dpa

Auf Luftbildern glaubt man das Romantische gleich erkennen zu können. Der Neckar schlängelt sich durch Baden-Württemberg; man denkt sich romantische Ausflüge an dessen Ufer hinzu.

Der Rhein wirkt auf Fotografien eine Spur weniger lieblich, stark und fett scheint er aus den schweizerischen Alpen sich einen Weg gen Nordsee zu suchen. Insgesamt aber sieht Mitteleuropa, überfliegt man es, wie ein anmutiger Park aus; leider, so denkt der Naturglaube, viel zu oft verschandelt durch Ansiedlungen. Ach, die Natur, ein unschuldiges Stück Schöpfung, dauernd bedroht vom Menschen. Als ob es um Schuld ginge!

Und gerade die sich um Hügel und Berge windenden Flüsse haben es uns angetan. Letzte Zeugnisse einer heilen Welt, als kein Mensch sie zubaute, Ufer begradigte, Läufe kanalisierte, zu Schnellwegen der Wasserwirtschaft aufpumpte. Hansjörg Küster hat in seiner "Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa" ausführlich beschrieben, dass dieses Wissen keines ist, sondern Einbildung. Natur ist nirgendwo mehr in Europa echte Natur, unberührte Stücke Landschaft. Überall war schon der Mensch, hat sie verändert - Seen!, Teiche!, Dämme -, ihr alle Wildheit ausgetrieben. Und das Ökosystem beeinflusst.

Selbst die Flüsse waren nie das, was sie uns heute scheinen - letzte unregulierte Gewässer, die sich immerhin der menschlichen Ambition widersetzen können, wenn auch nur schwach. Und der romantische Mensch denkt sich: die Natur ein Opfer, das sich nicht wehren kann. Wehrt euch, Flüsse, leistet Widerstand! Und so werden stark anschwellende Regengüsse, die sich talwärts zu Überschwemmungskatastrophen wie 2002 an der Elbe - oder regelmäßig am Rhein - als Menetekel gegen den gefräßigen, antinatürlichen Menschen gelesen.

Neulich haben die US-amerikanischen Wissenschaftler Dorothy Merritts und Robert Walter auch diesen Glauben gründlich dekonstruiert. Mitteleuropas kurvige Flussläufe sind keineswegs allerletzte Dokumente einer einst heilen Landschaft. Im Gegenteil, so schreiben sie in der Zeitschrift Science (Band 319, Seite 299, 2008) über ihre Forschungen zu Sedimentablagerungen an Flüssen und Auen, sind sie selbst Belege für menschliche Tätigkeit. Dass Flüsse wie der Main, der Neckar, die Werra, die Tauber oder die Nahe sich schlängeln, als hätte ein Disneylandparkstylist sie in die Landschaft zeichnend eingekuschelt, ist nicht allein der Erosion geschuldet, dem Wetter, den Winden, den Stürmen und Hageln. Sondern schlicht einem menschlichen Plan - Zeugnis mittelalterlicher Wasser-, also Energiewirtschaft. Nach der Eiszeit, als Mitteleuropa oberhalb der Alpen mählich auftaute, sah die Landschaft noch aus wie ein sumpfiges, von mehr oder weniger kaum mannshohen Büschen gesprenkeltes Naturgebiet aus. Der Bewuchs war eher karg; Zitate dieser elend reizarmen Topografie finden sich beispielsweise noch auf der schwedischen Insel Gotland. Die Böden dort sind eher sandig, landwirtschaftlicher Ertrag aus ihnen ist nicht zu haben. Wo die Böden nicht trocken und fest waren, weiter südlich auf dem Kontinent, fühlte sich der Untergrund wie matschiges Parkett an. Aus der Luft hätte man, wäre dies so wahrzunehmen möglich gewesen, keinen der heutigen Flüsse erkennen, sondern allenfalls erahnen können: alles ein unwegsames Gelände, feucht, mückenverpestet, gefährlich für jedes menschliche Leben. Das Wasser - nicht quellklar, sondern meist trüb, sedimentreich, nur bedingt genießbar.

Erst der Mensch hat dieser Landschaft Lebbarkeit abgerungen - die Natur war sein natürlicher Feind (!). Wo Morast war, durch den sich bis zum Meer unkanalisierte Rinnsale zogen, wurden erste Ufer befestigt; schließlich die Seitenarme ausgelöscht; es darauf angelegt, dass in den ersten der uns heute bekannten Flüsse Sandbänke sich bilden. Und das sollten sie auch, denn Sandbänke verlangsamen den Lauf der Wässer, machte die Flüsse nützlich für Mühlenwerke. Wasser als funktionierender, beherrschbarer Energie- und Nahrungsträger war ein knappes Gut - wie heute.

Dass sich mit all diesen Tätigkeiten das Ökosystem unumkehrbar änderte, war keine Not, sondern, wenn es ein Denken über diese Frage gegeben hätte, ein Tun in vollem Bewusstsein der Spezies. Die Natur, sie war dem Menschen ein Feind, sie war ihm noch überlegen, sie stand seinem Hunger nach planbaren Lebensumständen, nach Abwesenheit von Naturkatastrophen bzw. ihrer weitgehenden Kalkulierbarkeit im Wege. Überall wurde gesiedelt, wo es irgend ging; wo die Böden landwirtschaftlichen Ertrag versprachen, wo Weiden für das Hausvieh geschaffen werden konnten. Der Kampf gegen die Natur - eine Frage des Überlebens.

An den kultivierten Flüssen entstanden mit der Zeit schließlich Siedlungen; Städte, die am Ende des Mittelalters nicht an transportfähigen Gewässern lagen, wurden bedeutungslos. Etwa Rothenburg ob der Tauber, das seinen Rang heutzutage allein als Museumsweiler (und Ort mit der weltweit größten Weihnachtsschmuckproduktion) behaupten kann; oder Bardowieck bei Lüneburg, einst Transportknotenpunkt für den Salztransport aus dem Hessischen gen Lübeck, vor einem halben Jahrtausend eine Art Manhattan an der Ostsee - bedeutungslos außer für jene, die dort leben. Frankfurt, Herford, Fürth - ihre Namen deuten an, dass dort Flüsse bearbeitet wurden, in sie hinein regiert wurde, die beliebigen Wucherungen der Natur glättend.

Dass Menschen am Rhein überhaupt leben können, in ihm fischen, aus ihm Wasser schöpfen, ist nichts als Menschenwerk selbst - die Natur ist allerdings bis heute störrisch. Im Frühjahr, zur Zeit des Tauwetters, wird dieser Fluss so geflutet, dass er bis heute sich um Ansiedlungen am Rande nicht kümmert: Die Natur nimmt auf nichts Rücksicht, es sei denn, man zwingt sie.

Man erkennt die Kultivierung der Flusslandschaften noch heute in Tälern und Wäldern; verlassene Industrieruinen, überwuchert von Farnen und Efeu; ehemalige Dämme weit vor Flüssen, die zeigen, dass die Wasserläufe mal bis dorthin reichten. Mit der beginnenden Zivilisierung wurde mehr Energie benötigt; der deutsche Wald, den das gewöhnliche Spaziergemüt für eine überirdische, germanische Kreation hält, ist freilich nichts als in größter Zeitlupe wachsendes Brenn- und Bauholz. Mit ursprünglicher Flora hat er nichts zu tun. Wenn man so will, war der Wald das, was heute die Ölfelder Arabiens, Irans, Venezuelas, der USA und der Nordsee sind - Rohstofffelder.

Im deutschen Wald, dem erschaffenen, war es entsprechend unlieblich. Köhler produzierten dort Holzkohle; es roch kokelig, verbrannt, ja, es stank wie überall, wo es Waldbrände gab, also so wie demnächst, wie man den aktuellen Nachrichten entnehmen kann, in Kalifornien.

Lebensgefährlich war es auch ohne Feuersbrünste. Der Mensch im Wald fürchtete Luchse, Wölfe, Bären und Schlangen, Abgründe, Felsvorsprünge, Moortümpel. Der Siegeszug der kapitalistischen Ökonomie Anfang des 19. Jahrhunderts mit ihren Manufakturen, später Fabriken, ihren Bergwerken, hat eine Menge damit zu tun, dass in den Wäldern, genauer: in der Natur, niemand wirklich gern seinen Lebensunterhalt mehr verdienen wollte, war er nicht Förster und konnte sich aus allem Unterholz heraushalten, weil er Personal für die niederen Tätigkeiten hatte.

Europa ist, bis auf einige Naturschutzgebiete und geringe Flächen im nördlichen Skandinavien, durchweg unnatürlich. Weit oberhalb von Stockholm gibt es tatsächlich Flüsse, deren Wässer sich, allerdings zur Gewinnung von Energie da und dort aufgestaut, irgendwie trotzdem noch historisch naturgetreu zur Ostsee hin bewegen. Dort lebt nur, wer es muss oder kann. Es liegt an der unnatürlichen Idee der Staatlichkeit und ihrer Träger, dass die Menschen dort alle Annehmlichkeiten eines naturfernen Lebens in Anspruch nehmen können - der schwedische Staat hat an entvölkerten Städten und Kommunen kein Interesse und kann es sich leisten, dies auch zu bezahlen.

Der Glaube also, dass irgendwie das Grüne und Belaubte und Bewässerte außerhalb menschlicher Siedlungen unbedingt noch an die Natur aus biblischen Zeiten erinnert, mag gehegt werden - er ist dennoch irrig. Die kleinen symbolischen Kämpfe um das Natürliche entbehren insofern nicht eines komischen Charakters: Outdoortouristen unterscheiden sich von den von ihnen verachteten Campingurlaubern in fast nichts. Ersterer behauptet lediglich, ihm könnten Mücken und Ameisen nichts anhaben, die anderen möchten an die frische Luft und vergessen ihre Moskitonetze für den Grillabend mit Campingfreunden niemals.

Noch vor hundert Jahren mussten norwegische Bauern in der Fjordregion ihre Kinder auf den Almen anleinen; die Gefahr, dass sie, frei umhertollend, einen Abgrund viele hundert Meter todbringend herunterkollern, wäre sonst zu groß gewesen. Die schönste Natur, im flanierenden Sinne, ist vielleicht der Park - und ein solcher ist immer ein dekoratives Werk für ebendiesen Zweck: dem Menschen etwas in gezähmter, aber freundlich grüner Atmosphäre als Ausgehfläche zur Verfügung zu stellen. Wie der New Yorker Central Park, wie der Tiergarten in Berlin.

In solchen Arealen mag sich der Mensch mit seinem Gedächtnis für Überliefertes aussöhnen mit den Risiken der Natur: Es gibt dort stolperfreie Wege, überhaupt drohen keine Unfälle durch die Natur, sogar die Gewässer sind flach.

Der Natur mussten Flüsse und Wälder abgewonnen werden. Eingriffe in die Natur zum Zwecke der Konsumierbarkeit nach dem Schrecken, das jedes Natürliche birgt - demnächst wieder zu bestaunen an jedem Fluss, der sich romantisch schlängelt.

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