Ferienprogramme für Einheimische: Touristen im eigenen Land
Weil es keine Betreuung in Schulen und kaum Horte gibt, müssen Bayerns Mütter ihre Kinder beim Sommerprogramm für Urlauber unterbringen.
MURNAU taz Der Murnauer Ferienkalender ist gespickt mit Angeboten für Urlauberkinder. Dort lädt das Schlossmuseum des Alpenvororts die Kleinen zur Geisterjagd zwischen teuren expressionistischen Gemälden Kandinskys und Münters ein. Hier gehen Kinder auf Kräuterwanderung. Doch die meisten von ihnen sind gar keine Touristenkinder - sondern Einheimische.
"Ich muss arbeiten, ich kann mich nicht jeden Tag um meine Tochter kümmern", erzählt eine Frau, die auf die Rückkehr ihrer 10-Jährigen vom Kräutersammeln wartet. Um sie herum nur Mütter aus dem Landkreis Garmisch-Partenkirchen.
Dass die Einheimischen das Ferienangebot für Touristenkinder in Beschlag nehmen, ist kein Wunder. Horte, die für Schüler auch in den Sommerferien geöffnet haben, sind in Bayern Mangelware. Nur für rund 40.000 von über 1,1 Millionen bayerischen Schülern gibt es Nachmittagsbetreuung in Horten. Und die bayerischen Schulen bieten für Sommerfrischler erst gar nichts an. "Wir wollen nicht leugnen, dass es da Engpässe gibt", heißt es aus dem Schulministerium in München. "Aber das staatliche Schulwesen kann nicht alle Aufgaben übernehmen."
Die Betreuung Marke Zufall ist ein typisches Produkt der zersplitterten Zuständigkeiten zwischen Schule und Jugendhilfe. In Bayern ist das alles noch ein Stückchen komplizierter. Für die Freizeitgestaltung ist der Jugendring verantwortlich. Bei den Schulen hat Kultusminister Siegfried Schneider (CSU) das Sagen. Und bei den wenigen Horten, die in den Ferien Kinder betreuen, hat Sozialministerin Christa Stewens (CSU) den Hut auf. Alle drei Häuser zeigen mit dem Finger auf das jeweils andere - und weisen die Verantwortung von sich.
Die Eltern sind genervt davon. "Schulen sind im Sommer sechs Wochen dicht", ärgert sich etwa Eva Holzer, Mutter von zwei Kindern. "Wer aber hat schon sechs Wochen Urlaub?" Eine andere Mutter erzählt, wie sie die Kinder trotz Arbeit in den Ferien beschäftigen kann - mit spontaner Patchwork-Betreuung. "Ich teile mir die Kinder in den Ferien mit einer Freundin auf", sagt sie, "heute bin ich dran, morgen sie. Das muss irgendwie gehen." Leid tun ihr nur die Alleinerziehenden, für die seien die Sommerferien der reinste Horror.
Und getrennte Eltern gibt es in Bayern zuhauf. "Alleinerziehend ist heute kein Sonderstatus mehr, in Bayern leben rund 361.000 Alleinerziehende mit Kindern", gestand Sozialministerin Stewens jüngst ein. Das betrifft knapp ein Fünftel aller bayerischen Familien, in den Großstädten sogar ein Viertel. Daher will sie nun die bislang schlechten Kinderbetreuungsmöglichkeiten "mit Hochdruck ausbauen", versprach die Ministerin. Dazu zählen auch Ganztagsschulen. Der Ausbau könnte auch die Feriensituation verbessern. Denn die bayerischen Behörden greifen auf die Erfahrungen der Veranstalter von Ferienprogrammen zurück. Ab Herbst helfen etwa die Volkshochschulen Nachmittagsangebote an Hauptschulen zu organisieren. Auch der bayerische Jugendring vereinbarte eine Kooperation mit dem Schulministerium.
Dem Sprecher des Ministeriums freilich half das nichts. Als Ludwig Unger letzte Woche geplante Urlaubstage verschob, musste sein Schwiegervater aushelfen. Er nahm den Ungerschen Filius mit in die Hobbygarage, um an einem 50er-Jahre-BMW-Oldtimer herumzuschrauben. Papa Unger konnte da nicht - er musste gerade mit Ministerpräsident Günter Beckstein (CSU) das neue bayerische Ganztagsschulprogramm verkünden. Es sind halt bald Wahlen in Bayern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!