Aktenberge in Jobcentern: Hängepartie am Hartz-IV-Berg

150.000 Briefe stauen sich in den Hartz-IV-Behörden. Für Bedürftige ist das ein Drama, weil sie lange auf ihr Geld warten müssen. Die Justiz stockt Stellen am Sozialgericht wegen Hartz-IV-Klageflut auf.

Sammelstelle für Akten - auch so könnte man Jobcenter nennen Bild: DPA

In den Jobcentern hatten sich Probleme sowieso schon gehäuft: Besucher müssen lange warten, bekommen ihren Sachbearbeiter selten schnell ans Telefon. Der jüngste Schocker aber: In den zwölf Standorten stauen sich mehr als 150.000 unerledigte Briefe und Vorgänge. Mehr Personal und längere Öffnungszeiten sollen helfen, den Postberg abzubauen.

Rund 40.000 unerledigte Poststücke liegen allein im Jobcenter Spandau, fast 17.000 sind es in Mitte, gut 15.000 in Neukölln. Für die Betroffenen ist der Brief- und Aktenstau dramatisch, weil Anträge später bearbeitet werden können und so das Arbeitslosengeld II auch später kommt. Einige wenige könnten die Wartezeit vielleicht noch aus Rücklagen überbrücken, sagt Frank Steger, Chef des Berliner Arbeitslosenzentrums (Balz).

Viele aber gingen vors Sozialgericht, um eine schnellere Bearbeitung durchzusetzen. "Wenn die Leute nichts mehr zum Beißen haben, ist das der einzige Weg, der ihnen bleibt", sagt Steger. Die Jobcenter bestreiten hingegen, dass es einen Zusammenhang zwischen Poststau und Klagen am Sozialgericht gibt.

Die Justizbehörde in der Invalidenstraße, Deutschlands größtes Sozialgericht, ist ohnehin schon durch Prozesse zu Hartz-IV-Bescheiden überlastet. 2008 machten sie fast zwei Drittel aller Klagen überhaupt aus. "Da sehen Sie manchmal die Sekretärin nicht hinter all den Aktenbergen", sagt der Sprecher der Justizverwaltung, Daniel Abbou. Die Erfolgsquote bei den Klagen liegt bei rund 50 Prozent - fünfmal so hoch wie am Verwaltungsgericht. Zu den inzwischen schon mehr als 100 Richtern wünscht sich Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) bis 2011 weitere 40.

Auch den Jobcentern sollen zusätzliche Kräfte aus der Misere helfen. 717 vorwiegend vom Bund finanzierte Stellen sind in diesem Jahr zusätzlich zu den rund 5.000 Beschäftigten der zwölf Berliner Standorte vorgesehen. Als weitere Konsequenz aus dem Briefstau sollen verkürzte Sprechzeiten den Mitarbeitern mehr Luft verschaffen, die Post zu bearbeiten. Das aber ist wenig im Sinne der Betroffenen, die - dokumentiert in einer Umfrage des Arbeitslosenzentrums Balz - ohnehin schon über lange Wartezeiten klagen.

Der sozialpolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Gregor Hoffmann, begrüßt zwar die 717 zusätzlichen Stellen, Berlin erreiche damit aber weiter nicht das gewünschte Betreuungsverhältnis. In diesem Idealfall würde sich je ein Arbeitsvermittler um 75 unter 25-jährige Arbeitslose oder 150 ältere kümmern. "Davon sind wir noch entfernt", bestätigt ein Sprecher der Arbeitsagentur.

Weil Berlin innerhalb des bundesweiten Hartz-IV-Systems besonders belastet ist, fordert Hoffmann vom Senat eigene Anstrengungen: "Für die Berliner Situation braucht es eine Sonderlösung, die mit der Bundesagentur für Arbeit abgestimmt ist." Darunter versteht er, auf bessere Ausstattung und mehr Personal zu drängen. Mitarbeiter ließen sich auch vorübergehend von Bundesbehörden ausleihen.

Eine Sonderlösung aber kommt für die zuständige Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales nicht in Betracht. "Das liegt nicht daran, dass wir nicht wollten. Es ist schlicht nicht möglich - wir können nur auf bundesrechtlicher Ebene handeln", erklärt Sprecherin Anja Wollny. Genau auf dieser Bundesebene aber hakt es zurzeit. Denn das Bundesverfassungsgericht hat die Struktur der Jobcenter - getragen von der Bundesagentur für Arbeit und den Kommunen - schon 2007 als verfassungswidrig erklärt und eine Neuregelung bis 2010 gefordert.

Innerhalb der großen Koalition schien ein Kompromiss möglich. Doch nach langen Verhandlungen scherte die Union jüngst aus und vertagte die Sache. Damit gilt das Thema bis zur Bundestagswahl als politisch tot.

Sozialsenatorin Heidi Knaake-Werner (Linkspartei) hält das für "Parteiengezänk auf dem Rücken der Arbeitslosen". Bei Beschäftigten und Betroffenen herrsche große Unsicherheit. Sie befürchtet, dass die neue Struktur nicht bis zu dem vom Verfassungsgericht geforderten Zeitpunkt steht: Ab dem 1. Januar 2011 darf es die Jobcenter in ihrer jetzigen Struktur nicht mehr geben. Folgt man Frank Steger vom Arbeitslosenzentrum, wird sich für die Betroffenen wenig ändern: "Ich gehe nicht davon aus, dass eine neue Organisationsstruktur die Abläufe in den Jobcentern verbessern wird."

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