Kolumne CannesCannes: Familie als Geisterbahn

"Precious" von Lee Daniels ist eine weitgehend afroamerikanische Unternehmung, deren Heldin ein Ausmaß an Bösem auf sich nehmen muss, das für jeden normalen Menschen zu viel ist.

Die Schauspieler Paula Patton, Gabourey Sidibe und Mariah Carey posieren mit Musiker Lenny Kravitz in der Mitte in Cannes. Bild: ap

Am Abend ist die Croisette eine Kirmes. Man zeigt her, was man hat, je feister, umso besser, denn subtile Reize nimmt niemand wahr. Im Cinema de la Plage beginnt die Vorführung von Alan Parkers "The Wall", die Musik von Pink Floyd kracht auf den zugehörigen Strandabschnitt. Weiter unten wird ein in Postproduktion befindlicher Film von Roland Emmerich promotet, "2012". Wasserfontänen steigen auf und bilden eine vergängliche Leinwand, darauf projiziert wird ein Trailer, dazu erklingt ein bombastischer Soundtrack, der Pink Floyd ohne Mühe schlägt.

Dunkle Limousinen stauen sich zwischen den Gattern, die den Verkehr regulieren. Die Autos sehen aus wie die überproportional großen Wagen der Kriminellen, die sich in Jacques Audiards Wettbewerbsbeitrag "Un prophète" so lange in Intrigen verstricken, bis fast alle tot sind. Wer Silikon benutzt, scheut sich nicht, es herzuzeigen. Viele Frauen defilieren auf Schuhen, auf denen sie sich fühlen müssen, als hätten sie den Mont Blanc bestiegen.

Mit harten Reizen geizt auch "Precious" nicht. Der Film von Lee Daniels ist ein Beitrag zur Nebenreihe "Un certain régard" und eine weitgehend afroamerikanische Unternehmung. Oprah Winfrey gehört zu den Produzenten, die Buchvorlage stammt von der New Yorker Autorin Sapphire, Lennie Kravitz und Mariah Carey spielen mit, der Regisseur Lee Daniels ist bisher als Produzent - unter anderem von "Monsters Ball" mit Halle Berry - in Erscheinung getreten. Die Kirmes, die "Precious" in Szene setzt, besteht vor allem aus der Geisterbahn.

Die Heldin, die 16 Jahre alte Precious (Gabourey Sidibe), nimmt ein solches Maß an Bösem und Brutalem auf sich, dass es für einen Menschen zu viel ist. Vom Vater wird sie vergewaltigt, von der Mutter wie eine Sklavin gehalten, und als sie zum zweiten Mal schwanger wird, fliegt sie von der Schule. Sie ist dick, sie spricht kaum ein Wort, sie kann weder lesen noch schreiben. Im Voice-over erklingt ihr innerer Monolog, manchmal wird er von Traumbildern flankiert, von Fantasien, in denen sich Precious als gefeierte Diva im Scheinwerferlicht sieht, glamourös erstarrt in dem Augenblick, in dem ein Fotograf am Rand des roten Teppichs den Auslöser seiner Kamera betätigt. In einer anderen Szene sieht sie sich als schlanke Blondine, die sich vorm Spiegel die Haare richtet.

Die grellen Bilder verdecken nicht, dass Daniels eine erbauliche Geschichte erzählen will. Indem Precious lesen und schreiben lernt, verschafft sie sich Möglichkeiten des Ausdrucks. Und in dem Maße, wie sie sich auszudrücken lernt, kann sie Distanz zu ihrer fürchterlichen Geschichte entwickeln. Das Schöne an "Precious" freilich ist das Mischverhältnis, in dem beides, das Erbauliche und die Geisterbahn, die ihnen angemessene Wirkung entfalten.

Noch ein anderer Film handelt von einer ungeliebten jungen Frau: "Fish Tank" von Andrea Arnold (Wettbewerb). Mia (Katie Jarvis) ist 15 Jahre alt, wohnt in einer Sozialsiedlung am Rand einer englischen Stadt, ihre Mutter trinkt, der Umgangston in der Familie ist harsch. Man redet sich mit "shitface", "cunt" oder "bitch" an.

Als ein neuer Liebhaber ins Leben der Mutter tritt, gerät das Gefüge der Lieblosigkeiten durcheinander. Anders als Daniels setzt Arnold auf einen zunächst sehr frei wirkenden, realistischen Stil, wie man ihn etwa aus den Filmen der Brüder Dardenne kennt. Gegen Ende aber setzt sich das Drehbuch mächtig gegen diese freie Form durch. Das ist schade, ändert aber nichts daran, dass die Szenen, in denen Mia - auch sie sucht nach Formen des Ausdrucks - Breakdance übt, sehr schön sind.

In einem raren Moment der Innigkeit tanzen die Mutter und ihre beiden Töchter im Wohnzimmer der Sozialwohnung zu einem Stück von Nas. "Lifes a bitch!/ and then you die; thats why we get high/ Cause you never know when youre gonna go".

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