Russische Provinz: Opposition in der Pampa

Kirow ist ein Ort, in dem Karrieren eher enden. Vielleicht regiert ihn deshalb jetzt ein russischer Oppositioneller: Nikita Belych.

Demonstrierte früher in Moskau - und arbeitet jetzt gegen verkrustete Strukturen in Kirow. Bild: dpa

Parteien: In Russland sind gerade sieben Parteien registriert. Einerseits sind die bürokratischen Hürden zu hoch. Außerdem existiert eine Siebenprozenthürde. Allerdings könnte in Russlands Parteienlandschaft wieder Leben kommen. Laut einem Bericht der Zeitung Nesawisimaja Gaseta plant Präsident Medwedjew eine Senkung der Siebenprozenthürde.

Opposition: Die einzige verbliebene parlamentarische Oppositionspartei ist die Kommunistische Partei unter der Führung des Stalin-Verehrers Gennadij Sjuganow. Die linksliberale Jabloko-Partei, die 1993 noch knapp 8 Prozent der Stimmen erhalten hatte, kam bei den letzten Duma-Wahlen 2007 nur auf 1,6 Prozent. 2008 gründeten der frühere Schachweltmeister Garri Kasparow und der ehemalige Vizepremier Boris Nemzow die liberale, Putin-kritische Bewegung "Solidarnost". Sehr umstritten ist die Zusammenarbeit von bürgerlicher und linker Opposition. Die Stalin-Verehrung bei einigen Kräften wie zum Beispiel der "Avantgarde der kommunistischen Jugend" und das Großmachtsdenken der nicht registrierten National-Bolschewistischen Partei steht dem im Wege. BC

Im Schritttempo kämpfen sich die Wagen zwischen Furchen mit hüfthohem Regenwasser und Hügeln aus aufgetürmten Asphaltresten voran. Vierzig Kilometer vor Kirow löst sich die Verbindungsstraße des gleichnamigen Verwaltungsgebietes in sumpfiges Ödland auf.

Russlands Machthaber behandelten die Region 1.000 Kilometer nordöstlich von Moskau schon immer stiefmütterlich. Die verwunschenen Wälder im Norden kamen ihnen meist nur dann in den Sinn, wenn für Dissidenten und aufmüpfige Beamte ein Verbannungsort gefunden werden musste.

"Sobald man die Stadt betritt, spürt man, dass die Karriere hier ein Ende hat und vom Leben nichts mehr zu erwarten ist", klagte Michail Saltykow-Schtschedrin, der strafversetzte Beamte des Zaren, im 19. Jahrhundert. Weil er "schädliches Gedankengut - Ideen, die ganz Westeuropa erschütterten" - verbreitet hatte, ließ der Zar den Satiriker im Nebenberuf in das entlegene Kirow, damals noch Wjatka, abschieben.

160 Jahre später übernimmt wieder ein Querdenker die Verwaltung in Kirow. Seit Januar leitet Nikita Belych die Geschicke der Region, die ein Drittel der Fläche Deutschlands umfasst. Holz, Chemie- und Rüstungsindustrie sind hier angesiedelt, die ihren Mann aber noch nie ernähren konnten. Die Oblast ist eine der rückständigsten Regionen Russlands und ohne Hilfe aus Moskau nicht lebensfähig. Gäbe es da nicht das sphärenartige Nordlicht und die märchenhafte Natur, die unzähligen Narben des Zerfalls würden bedrohlich wirken. Mit "kosmetitscheskij remont", der oberflächlichen Liftung der Außenhaut, die in Russland gerne mal angewandt wird, um beim flüchtigen Beobachter einen guten Eindruck zu hinterlassen, ist in Kirow nichts zu erreichen. Die Hälfte des Haushalts steuert Moskau bei.

Dieser Region Leben einzuhauchen, ist eine undankbare Aufgabe, ein Mammutprojekt. Gouverneur Belych hätte nicht zustimmen müssen, denn verbannt wurde er nicht. Der russische Präsident Dmitri Medwedjew hat den Oppositionellen weggelobt. Mit der Ernennung des früheren Vorsitzenden der Oppositionspartei Union der rechten Kräfte zum Gouverneur sorgte der Kremlchef im Dezember für Aufsehen. Die Öffentlichkeit rätselte, ob die Nominierung eines namhaften Oppositionellen der Auftakt eines liberalen Experiments sein sollte. Oder wollte der Kreml, dass sich der Kritiker an der notleidenden Provinz die Zähne ausbiss? Ehemalige politische Weggefährten fragten gar, ob sich Nikita nicht habe kaufen lassen.

Der 33-jährige Gouverneur überlegt lange. "Ich glaube an ein liberales Experiment", sagt er schließlich. Eine Spur Autosuggestion schwingt da mit. Vielleicht wolle Moskau ein Signal senden, auch mit anderen Kräften zusammenarbeiten zu können. Eine schwierige Aufgabe steht vor ihm. Er muss der rückständigen Region neue Impulse verleihen und seiner liberalen Überzeugung treu bleiben. Gelingt dies nicht, würde die liberale Idee, die im Russland Putins ohnehin nur wenige Anhänger findet, auf noch längere Sicht in Verruf geraten.

Die Bürde ist Belych anzusehen. Er wirkt müde, die vier Monate in der Provinz haben dem bulligen Politiker zugesetzt. Die verkrusteten Machtverhältnisse vor Ort verlangen ihren Preis. Zwar leistet die in der Kremlpartei Vereinigtes Russland organisierte politische Elite keinen offenen Widerstand, aber sie weiß sich gegen Veränderungen zu wehren. Daher hat Belych die neue Regierung auch nach vier Monaten noch nicht vom Parlament bestätigen lassen. Eine Formalität nur, die aber Unwägbarkeiten in sich birgt.

Seinem jungen Team aus Moskauer Liberalen gehört auch die 24-jährige Maria Gaidar an. Die Tochter des früheren Ministerpräsidenten und Reformers Jegor Gaidar galt in Moskau als eine unversöhnliche Kritikerin des Putin-Regimes. Als amtierende Stellvertreterin des Gouverneurs kümmert sie sich um das Soziale, Gesundheit, Behinderte und Rentner. "Ein einziger Problembereich", sagt sie. Die purpurfarbene Schleifchenbluse verrät, dass sie sich äußerlich dem konservativen Code der Administration anpasst. Im Gegensatz zu Belych hält sie die Ernennung jedoch für einen Versuch Moskaus, die Opposition zu neutralisieren.

Vor allem sucht der Kreml aber nach neuen Kräften, auf die er sich stützen kann. Die Kaderreserve sei erschöpft. Gaidar ist davon überzeugt, in Kirow etwas bewegen zu können, auch wenn es mühsam werden dürfte: "Spreche ich Probleme an, sind alle bestürzt", sagt sie. " Denn politische Führung und Mängel schließen sich in diesem Denken aus". Qua Amt könne "wlast", was so viel wie Obrigkeit bedeutet, nicht fehlen. Sie sei überlegen, erfahrener und grundsätzlich unfehlbar, fasst Gaidar die Essenz der ersten Monate zusammen. "Die Führungsschicht lebt in ständig reproduzierten Mythen. Wirklichkeit existiert nicht." Leute aus diesem System seien zum Dialog nicht fähig.

"Die Elite in Kirow verfolgt mein Tun mit Befremden, aber auch amüsiert. In ihrem Verständnis kann nur ein unnahbarer auch ein guter Provinzfürst sein", sagt Belych lachend, der Transparenz auf seine Fahnen geschrieben hat und die Distanz der Obrigkeit zum Volk verringern möchte.

Die Geschäftswelt ist vom neuen Stil begeistert. "Der alte Gouverneur wollte mit uns nichts zu tun haben", sagt Igor Petuchow, der einen mittelständischen Holzverarbeitungsbetrieb in Kotelnitsch leitet und dem Verband der Nutzholzproduzenten in Kirow vorsitzt. An diesem Wochenende hat er am Ufer der Wjatka ein paar Angeln ausgelegt und sein australisches Schlauchboot zu Wasser gelassen. Fischen ist sein Hobby, zweimal im Sommer erlaubt er sich das. Umso ärgerlicher, dass den ganzen Tag kein Fisch anbeißen will. Petuchow nimmt es gelassen, wie die Wirtschaftskrise, die auch seinen Betrieb nicht verschont hat. Der neue Gouverneur suche den Kontakt. "Früher wurden wir einzeln einbestellt, heute erörtern alle Unternehmer gemeinsam mit der Regierung neue Strategien".

Der junge Gouverneur verstehe die Erfordernisse der Geschäftswelt, sagt Petuchow. "Wir denken ähnlich, weil wir der gleichen Generation angehören, und gehen partnerschaftlich miteinander um." Petuchow will beobachtet haben, dass die Bürokraten, vor kurzem noch Drangsalierer der Unternehmen, jetzt vorsichtig geworden sind. "Sie achten aber genau darauf, was der Neue tut." Wenn sich der frische Umgang durchsetze, hätte die Region eine Zukunft, meint auch der Präsident der örtlichen Handelskammer, Nikolai Lipatnikow. "Der Gouverneur hat einen Blick für Notwendigkeiten und entscheidet operativ."

Im Mai schaute sogar Präsident Medwedjew in Kirow vorbei. Die letzte Visite eines russischen Herrschers lag 150 Jahre zurück. Mit dem Besuch stärkte der Kremlchef dem neuen Mann den Rücken, aber auch die Region stand für zwei Tage im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Normalerweise wäre dies in Russland ein Grund zum Feiern. Die Lokalpresse indes befreit sich langsam von Zensur und Selbstzensur und nörgelte, der Gouverneur hätte dem hohen Gast nach guter russischer Manier Potemkinsche Dörfer präsentiert. Zwei Wochen vor der Visite wurde aufgeräumt und asphaltiert. Die Kritik ärgert Belych. "Nichts Absurdes haben wir gemacht, kein Gras angestrichen oder den sonst üblichen Blödsinn." Sie hätten lediglich den gröbsten Dreck beseitigt. Schließlich würde man auch zu Hause dreckige Socken wegräumen, wenn sich Besuch ankündigt. Die Kritik der Presse sei ein gutes Zeichen, meint Petuchow.

"Wir können wieder freier atmen." Die Presse will dem Gouverneur auch nicht nachstehen, der sich jede Woche im Radio ungefilterten Hörerfragen stellt. Bei der Bevölkerung kommt das gut an, Belych weckt Hoffnungen, so dass eine russische Zeitschrift den Gouverneur schon zum "Barack Obama Kirows" kürte.

Von der Popularität konnte sich auch Medwedjew überzeugen, dem Zaungäste zuriefen: "Vielen Dank für den Gouverneur!" - "Schön zu hören, aber bedenklich", meint der Gefeierte.

Unterdessen richtet das neue Team im ersten Stock des Regierungsgebäudes ein ungewöhnliches Museum ein. Dort sollen Beamte alle "Motivationshilfen" abliefern, die teurer sind als 100 Dollar. Jeder Bürger kann so prüfen, ob sein beschenkter Beamter eine ehrliche Haut ist. Die ersten Exponate im Korruptionsmuseum sind in den Vitrinen schon zu bestaunen. Eine vergoldete Ölplattform etwa mit Bohrturm und Hubschrauberlandeplatz, orthodoxe Ikonen und filigrane Manschettenknöpfe. "Früher standen hier Bücher, die niemand las", meint Belych, bevor er selbstkritisch anmerkt: "Zugegeben, ein bisschen populistisch ist das schon."

Doch den Populismus nimmt ihm niemand übel. Selbst die Jugendorganisation Molodaja Gwardija, die für die Kremlpartei den Nachwuchs heranbilden soll, kann sich dem neuen Politikstil nicht entziehen. Sie rechnen dem Gouverneur hoch an, dass er beim Aufräumen der Stadt am Wochenende selbst mit angepackte. Die eigenen Parteifunktionäre seien sich dafür zu schade gewesen, meint der Chef Michail Kuraschin, der in seinem Büro vor einem Plakat mit der Aufschrift sitzt: "Wo keine Straßen sind, gibt es auch keine Obrigkeit."

Als Saltykow-Schtschedrin nach acht Jahren Exil die Stadt verlassen durfte, wunderte er sich: "Ich fühle, dass eine unerklärliche Trauer mein Herz erfasst … sollte ich einen Teil von mir in dieser Stadt zurückgelassen haben …?"

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