Debatte Sarrazin: Rasse statt Klasse

Je mehr die soziale Kluft wächst, umso schärfer wird der Tonfall. Deshalb erntet ein Thilo Sarrazin mit seinen plumpen Thesen so viel Zuspruch.

Für Berliner, die Thilo Sarrazin aus seiner Zeit als Finanzsenator der Hauptstadt kennen, hat die Debatte um sein jüngstes "Skandal-Interview" eine überraschende Wendung genommen. In den Jahren, in denen Sarrazin in Berlin wirkte, war er berüchtigt - seine Sprüche über Beamte oder Hartz-IV-Bezieher waren oft unterhaltsam und bösartig, standen aber nie im Ruf, geistreich oder gar mehrheitsfähig zu sein. Sarrazin galt als Dieter Bohlen der Berliner Politik - ein Großmaul, das man nicht allzu ernst nehmen musste. Irgendwie passte er damit ganz gut in die Stadt von Sido und Bushido. Und jetzt soll ausgerechnet dieser Dampfplauderer eine ernsthafte Integrationsdebatte angestoßen haben? Man glaubt es nicht und reibt sich die Augen.

Zur Erinnerung: Im Kulturmagazin Lettre International äußerte Sarrazin ja nicht nur, dass türkische und arabische Einwanderer in Berlin schlechter integriert seien als andere Gruppen wie Vietnamesen und Russlanddeutsche - eine bundesweite Studie kam kürzlich zu einem ähnlichen Ergebnis. Der Neu-Bundesbanker hatte auch über vermeintliche Gründe für die Misere spekuliert und dabei, gelinde gesagt, den Boden der Empirie verlassen. So fabulierte er etwa, siebzig Prozent der Türken und neunzig Prozent der Araber in Berlin seien "weder integrationswillig noch -fähig", und führte dies unter anderem auf eine "Mentalität" zurück, die er "aggressiv und atavistisch" nannte. Außerdem, so seine pseudointellektuelle Suada, sei menschliche Intelligenz zum Teil wohl erblich, weshalb es von Nachteil sei, dass in Berlin gerade die Unterschicht - und da vor allem die türkische! - so viele Kinder zur Welt bringe.

Die Empörung über Sarrazin rührte nicht allein von den saloppen Formulierungen her, mit der dieser über türkische Obst- und Gemüsehändler oder Kopftuchträgerinnen hergezogen war. Sie entzündete sich vielmehr am rassistischen Weltbild, das im Verlauf des Interviews an mehreren Stellen deutlich zutage tritt. So hatte Sarrazin nicht nur im Stil eines serbischen Rechtsextremisten schwadroniert, "die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate", um sarkastisch anzufügen, es würde ihm ja "gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung" (Hat er das eigentlich selbst gemessen?). Sarrazin bekannte sich darüber hinaus auch zu radikalen politischen Lösungen: "Kein Zuzug mehr, und wer heiraten will, soll das im Ausland tun", außerdem "perspektivisch keine Transferleistungen für Einwanderer mehr". Kein Wunder, dass sich die sächsische NPD auf die Schenkel klopfte und ihn für das Amt des Ausländerbeauftragen empfahl, obwohl Sarrazin seinen antimuslimischen Brass mit einer Prise Philosemitismus abgerundet hatte.

Erschreckend ist nicht, dass ein Thilo Sarrazin so plumpes Gedankengut vertritt. Beängstigend ist, dass eine Mehrheit der Deutschen damit offenbar kein Problem hat und ihm sogar zustimmt. Laut einer Emnid-Umfrage (für die Bild-Zeitung) teilen 51 Prozent aller Deutschen Sarrazins These von der fehlenden Integrationsfähigkeit. Und nach einer tendenziösen "Hart aber fair"-Sendung antworteten gar 81 Prozent, man dürfe ruhig "so zugespitzt formulieren, wie Sarrazin es getan habe". Bleibt nur zu hoffen, dass viele Befragte den genauen Wortlaut des Interviews nicht kannten, zumal die meisten Medien nur eher harmlose Passagen zitiert haben. Doch für den Umgang mit dem Rassismus in diesem Land, wenn er sich mal im Bankiersanzug statt in der Bomberjacke artikuliert, ist das kein gutes Zeichen.

Thilo Sarrazin fügt sich nur besonders laut pöbelnd in den Chor derjenigen, die die Verlierer der Gesellschaft selbst für ihre Lage verantwortlich machen. Zu befürchten ist, dass solche Debatten um angebliche Integrationsverweigerer und andere "Sozialschmarotzer" in den nächsten Jahren noch an Zahl und Heftigkeit zunehmen werden, wenn es unter Schwarz-Gelb zu den befürchteten Einschnitten ins soziale Netz kommt. Wer auf Hartz IV angewiesen sei, der habe sich im Leben einfach nicht genug angestrengt, so die Stammtischparole von Leuten wie Thilo Sarrazin, der selbst aus großbürgerlichen Verhältnissen stammt und gerne glauben möchte, dass dieses Privileg sein ureigenster Verdienst ist. Neu ist, dass der Bundesbanker seine Klassentheorie jetzt zur Rassentheorie weiterentwickelt hat: Es liegt nicht am deutschen Bildungssystem und mangelnden Chancen, dass so viele türkische und arabische Einwanderer selbst der dritten Generation beim Bildungsaufstieg scheitern - es liegt an der Kultur und den Genen! (In dieser Hinsicht, da hat Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden recht, steht Sarrazin in der Tradition von Hitler und Goebbels, auch wenn der Vergleich sonst etwas dick aufgetragen ist).

Neu ist auch, dass solcher Salonrassismus in der Mittelschicht auf offene Ohren stößt. Bisher hatte man in diesen Kreisen die Zuwanderung schlicht ignoriert oder sich in der Illusion gewiegt, Rassismus sei nur im Osten des Landes oder der Unterschicht ein Problem. Doch seit immer mehr selbstbewusste Migranten die Forderung auf Teilhabe erheben, fühlt sich auch die Mittelschicht vom zunehmend multiethnischen Charakter dieser Gesellschaft verunsichert, fürchtet um ihre Privilegien und ihren Lebensstil.

Die SPD täte gut daran, Sarrazin schleunigst aus der Partei auszuschließen. Politiker wie Martin Hohmann oder Henry Nitzsche wurden aus ähnlichen Gründen aus der Union geworfen. Außerdem steht seine radikale Absage an jede Möglichkeit eines "Aufstiegs durch Bildung" gegen alles, wofür die Sozialdemokratie seit jeher eintritt. Über die bildungsfernen Schichten der Hauptstadt sagte Sarrazin, leider gäbe es "keine Möglichkeit, diese Leute vernünftig einzubeziehen", an Integration durch Bildung glaubt er nicht. So ähnlich dachte schon das Großbürgertum im 19. Jahrhundert über das Lumpenproletariat. In einer Partei, die auf den Bildungskarrieren von Leuten wie August Bebel und Willy Brandt, Gerhard Schröder, Frank-Walter Steinmeier oder Sigmar Gabriel gründet, die sich alle aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet haben, ist Thilo Sarrazins Snobismus ein schlechter Witz.

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Daniel Bax ist Redakteur im Parlamentsbüro der taz. Er schreibt über Innen- und Außenpolitik in Deutschland, über die Linkspartei und das neue "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW). 2015 erschien sein Buch “Angst ums Abendland” über antimuslimischen Rassismus. 2018 veröffentlichte er das Buch “Die Volksverführer. Warum Rechtspopulisten so erfolgreich sind.”

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